ÜbersiedlerInnen: Im Schloß, ohne Riegel

■ Dem Weser-Report auf der Spur oder: Unsere Brüder und Schwestern, die Kriminellen: Besuch im Übersiedlerwohnheim

Die reichgeschnitzte Tür ist offen, unter Kristallüstern, auf Intarsienparkett, im stuckatierten Festsaale sitzt ein kleines, blondes Mädchen und kuckt Fuchs-und-Hasen-TV, sie rückt die Stahlrohrstühle in Reih und Glied, als sich zwei weitere

Knirpse dazusetzen. Eine dicke Frau setzt sich dahinter. Willst du fernsehen oder nicht? rumpelt sie das Mädchen an, als dieses kurz durch ihr umgehängtes Fernrohr auf den Nachbarn anstatt in die Glotze sieht.

Ich steige die Marmortreppe

hinauf. Klopfe an der erstbesten Tür. Dahinter kein Schloß am Osterdeich mehr, es ist geräumig, sauber, nüchtern, 2 mal 2 Betten, picobello aufgeräumt, kein Bier, nur neue walkmen auf der Fensterbank, im jüngsten Übersiedlerwohnheim für Polen-und

DDR-Deutsche, bis vor kurzem Kindergeldkasse des Arbeitsamtes. Ich werde zu Neskaffee eingeladen, der dick in den Tassen steht, und lege den Weser-Report mit der doppeltdicken Schlagzeile „Waffen im Etagenbett“ auf den Resopaltisch. „Die Stimmung gegen die Aus- und Übersiedler aus der DDR schlägt um.“ Ausschlaggebend... Meldungen über Alkoholexzesse und Schlägereien in Notunterkünften...Johanniter-Unfallhilfe: 'in den letzten Wochen etliche Kriminelle aus der DDR gekommen...Schußwaffen und Messer gefunden‘. „Absahner“...geben „Gastspiele“.

Ach, Sonntag gibt's auch 'ne Zeitung? Kriegen wir ja nicht. - Nacheinander lesen erst die beiden jungen Frauen, dann die beiden jungen Männer, schmal, ohne Tätowierungen, wenn Sie das meinen. Keine große Reaktion. „Sind wa allet Vabrecha, wa“, sagt die elend aussehende Blonde vom Prenzlauer Berg. „Nee, hier ist allet ruhig jewesen“, sagt ihr Mann.

Warum sie, alle jung, alle ungelernt, gekommen sind, so um den 12. Februar? Gudrun aus Potsdam, allein mit Baby und 6jährigem, wollte nie rüber, die

Kinder waren voll versorgt, sie verdiente 280 Mark als Kellnerin. Als der Freund nach dem Strafvollzug wegen R -Flucht - wegen was? - Republikflucht nach West-Berlin ging, sollte sie ausziehen. Am gleichen Tag sah sie das erste Mal im Schaufenster grüne Gurken, die der Kleine so liebend gern ißt. „Das Kilo 15.80!“ Da ist sie los. Ehe es wirklich zu spät wäre, man las ja immer sowas.

Das Arbeitsamt hier hat gesagt, es könnte erst vermitteln, wenn sie die Kinder untergebracht hat. Wie sie das machen kann, weiß die Betreuerin im Übergangswohnheim auch nicht. Daß für die Kinder einfach nicht gesorgt ist, begreift sie nicht. Zurück nach Potsdam könnte sie, will aber nicht.

Und Silke mit Kind? Sie ist „wegen ihm“ gekommen. Sucht in „Markt und Chance“ einen Job als Küchenhilfe. Versteht nicht, wie Chiffre geht. Und Klaus? Auch wegen der Wohnung. Nach dem Strafvollzug wohnte er mit der Familie bei den Eltern, mußte bei denen durchs Zimmer. Ärger.

Der vierte, Jochen, hat „Mist gebaut“, was für welchen will er lieber nicht sagen. Hätte drüben in den Strafvollzug müssen. Ob er

nicht Angst hat, hier gefaßt zu werden. Klaus, der andere, lacht bei dieser Frage. Der erste Strafvollzug war nämlich gemeinsam, nur er hat vier Wochen gesessen, Jochen aber nur zwei. Wegen „unbefugter KFZ-Benutzung“, ja, weil die Mopeds wurden ja zurückgegeben, da war es nur noch unbefugte Benutzung. Das zweitemal hat Klaus wg. „asozialem Verhalten“ gesessen. Was ist das? Nicht zur Arbeit erscheinen. Jochen verrät nun auch, daß der letzt„gebaute Mist“ die Entwendung von 2000 Mark war, mit denen er in die Warschauer Botschaft türmen wollte. „2000 brauchste dafür nicht. Kannst du die nicht zurückzahlen?“ sagt Gudrun. Das hatte seine Schwester ja gewollt, aber er nicht, dann hätte er immer vor ihr auf den Knien rutschen müssen.

„Dann stimmt das also mit den Kriminellen?“ frage ich. „Stimmt“, findet Gudrun. Die „Kriminellen“ selber sind kurz uneinsichtig: Den Paragraphen 240 gibt's hier doch gar nicht. - Doch, Mopedklauen ist hier Diebstahl . - Na, ist ja auch egal, Klaus weiß ohnehin, daß man hier gar nicht sagen kann, daß man aus der DDR ist, sonst fängste dir einen.

Uta Stolle