Die Erfüllung des Serails

■ Karl-Ernst Herrmanns neue Mozart-Inszenierung in Brüssel

Nicht nur die ganze Produktion ist meilenweit gegangen (nämlich von Wien, wo sie anläßlich der Festwochen im letzten Mai herauskam, ans Brüsseler Theatre de la Monnaie), sondern insbesondere einer ihrer Hauptdarsteller: Belmonte, der spanische Fürstensohn, der den Orient durchstreift auf der Suche nach der ihm entrissenen Konstanze. Das Brokattuch der Mozartzeit, das Karl-Ernst Herrmann auf den Vorhang malen ließ, ist ein wenig angehoben, so daß der Blick auf schön-wilde Wellen und ein festes Haus am fernen Gestade freigegeben wird. Indem das Vorspiel anhebt mit seinem kunsttürkischen Kolorit, rückt das Serail direkt vor Augen: eine hohe Mauer versperrt die Sicht, und ein kleines massives Tor läßt jeden Gedanken an gewaltsames Eindringen erstarren. Der amerikanische Tenor Kurt Streit entsteigt dem Orchestergraben, hat Feldflasche, Landkarte, Stockschirm und Kletterseil dabei, um auch mittelschwere alpine Aufgaben zu meistern - aber die kommen nur auf seine Kehle zu. Belmonte hält inne, dieser junge Intellektuelle, der sich durch „Körperertüchtigung“ für die anderen Aufgaben des Lebens fitgehalten hat; er krempelt die Knickerbocker hoch und die Kniestrümpfe runter, entledigt sich der Wanderstiefel - und aus den Schuhen rinnen stattliche Sandhäufen: „Hier soll ich dich denn sehen, Konstanze!“

Eine Kletterpartie in phantastisches Land ist diese Aufbereitung der Entführung aus dem Serail fürwahr - und die Inszenierung fügt sich jetzt als weiteres Glanzstück in den 1982 von Karl-Ernst Herrmann in Brüssel begonnenen Mozart-Zyklus. Doch wenn zwei die gleiche Musik in Angriff nehmen, um sie aus dem Schlendrian der Gewohnheit zu entführen, kommt noch lange nicht dasselbe heraus. Nikolaus Harnoncourt hatte die Wiener Entführung mit der von ihm re- und deklamierten „Klangrede“ erfüllt; hatte die Allegri bis an die Grenzen des Möglichen getrieben, hatte die Ungebärdigkeit der Janitscharen-Musik hervorgekehrt, die langsamen Sätze aber fast über Gebühr gespreizt und im Gnadenlicht ihrer Schönheit funkeln lassen. Emil Tchakarov, langjähriger Karajan-Assistent, steht nun in Brüssel am Pult. Es ist nicht einfach, aus dem Kontext der Karajan -Ästhetik in die reinigenden Feuer und heiligen Wasser des Harnoncourtschen Mozartspiels zu steigen und dort weder zu verglühen noch zu ertrinken. Der nicht mehr ganz junge Herr Tchakarov bemühte sich redlich, in des großen Nikolaus‘ Fußstapfen zu treten. Aber in Brüssel war dann doch zu hören, was einen Meister von einem Spießgesellen des Taktstocks unterscheidet.

Lynn Dawson, die häufig im Beipack zu Trevor Pinnock oder John Eliot Gardiner zu haben ist, stattete die Konstanze mit einer überragenden Sopranstimme aus und setzte sich durch ihre Artistik ins Zentrum der Intrige. Durch den düster -nachdenklichen Hilmar Thate (als Bassa Selim) erhielt sie allerdings ein bemerkenswertes Gegengewicht: Diesem aufgeklärten Konvertiten ist nun endlich zu glauben, daß er die Liebe der Konstanze gewinnen möchte und nicht nur rasche Lust. Obwohl ihn das Schauspiel von Bretzner und Stephanie keinen Stich machen und Mozart ihn keinen Ton singen läßt, vermag Bassa Thate den blasiert balzenden Belmonte als nicht sonderlich achtbaren Triebtäter erscheinen lassen. Thomas Brasch hat, eingefügt nach der Marter-Arie, eine zusätzliche Szene für den Sultan geschrieben: „Ist denn kein Wort in meiner Sprache, das sie in Rausch versetzt wie Wein und ihren Willen gänzlich taumeln läßt - wie heißt das Zauberwort?!“

Der Preis für die Aufwertung des Schauspiels: mehr als vier Stunden Aufführungsdauer des nicht durchweg mit Substanzreichtum prangenden Stücks. Über dessen Blindstellen strahlt die Pracht und Eleganz der Bilder - und nur gelegentlich nimmt das regieführende Ehepaar Herrmann Zuflucht beim polternden Humor der Rüpelszenen mit Osmin. Für den zweiten und dritten Aufzug ließ der Bühnenbildner ein Labyrinth errichten, zwischen dessen halbhohen Mauern die Protagonisten auf- und abtreten müssen; ein Irrgarten, in dem Konstanze mit ihrer Begleiterin Blonde gefangen ist und in dem sich die Seelen der Frauen verfangen; ein Weg mit vielen Windungen für die Männer, welche die beiden „Engländerinnen“ gewinnen wollen; das erfüllte Bild des von Mauern aller Arten verschlossenen und unterteilten Serails. Karl-Ernst Hermann stattet diesen Theatergarten der Sehlüste zudem mit aller barbarischen Pracht Asiens aus - dem Sultan stehen die verschiedensten Turkvölker zu Gebot und jedes hat seine Kriegs- und Musikwerkzeuge. Erinnert wird so an den Schrecken, den Türkenkriege und -herrschaft bis weit nach Deutschland hinein lange verbreiteten. Die Erleichterung über den schwindenden Druck aus dem Osten muß den heutigen Gefühlen über die allseitige Reduktion der sowjetischen Hegemonialmacht vergleichbar gewesen sein.

Frieder Reininghaus