Nachbilder des Rosa Winkels

■ Homosexuellenverfolgung in Deutschland: Vom Stigma zum Vernichtungsprogramm / Versuche, den Terror zu erklären

In welchem Ausmaß, welchen Formen während des Dritten Reiches die systematische Verfolgung, Vernichtung, Vernutzung von Menschen betrieben worden war, die man zuvor zu Staatsfeinden und „Volksschädlingen“ erklärt hatte, ist in der frühen Nachkriegszeit erst nach und nach deutlich geworden. Im stockenden Prozeß der öffentlichen Kenntnisnahme waren die Berichte von Überlebenden wichtig für alle Versuche zu begreifen, schließlich zu deuten - eher als die allmählich errechnete Bilanz des Genozids konnten sie vielleicht sichtbar machen, was da unter aller Augen geschehen war.

Diese Berichte einzelner fügten sich dennoch kollektiven Mustern: Selbstverständlich wurden sie auch in dem Bewußtsein gelesen, wenn nicht gar geschrieben, daß die wegen ihrer Herkunft oder Weltanschauung Verfolgten nun wieder ins Recht zu setzen seien und ebenso die Gemeinschaften und Organisationen, denen sie zugehörten nicht zu reden von der sogenannten „Wiedergutmachung“. * * *

Außer dem gelben Stern und dem roten Winkel zeigten die Häftlingsjacken aber noch andere Farben von der Palette der Stigmatisierung: Schwarz für die „Asozialen“, Braun für „Zigeuner“, Grün für die „Kriminellen“, Lila für die Zeugen Jehovas und Rosa für Homosexuelle.

Unter den Gruppen von Häftlingen, die nach der Befreiung nicht anklagten und die nicht rehabilitiert wurden, hatten nur die Homosexuellen in der Weimarer Republik über eine Art Organisation, über öffentliche, politische Einrichtungen zur Vertretung ihrer Rechte und Ansprüche verfügt. All das war zerschlagen worden und wurde in der Nachkriegszeit in beiden deutschen Staaten nicht erneuert. Die Opfer schwiegen nicht nur, weil ihnen Ermutigung und Unterstützung fehlte - sie hatten noch einfachere schlechte Gründe: Die nationalsozialistische Verschärfung des Paragraphen 175 wurde in der Bundesrepublik erst 1969 aufgehoben. Den Rosa Winkel gab es nicht mehr, aber das Stigma war geblieben. Das galt ebenso in der DDR, die immerhin schon 1950 die NS -Fassung des Paragraphen außer Kraft gesetzt hatte. Doch wie hier wurde den homosexuellen Opfern des Dritten Reiches auch dort keine finanzielle „Wiedergutmachung“ gewährt. * * *

Erst 1972 ist in der Bundesrepublik eine Schilderung des Lebens im Konzentrationslager aus der Sicht eines homosexuellen Häftlings erschienen: Heinz Hegers Die Männer mit dem Rosa Winkel. Bis dahin war das Thema auch in den zahlreichen wissenschaftlichen Werken, die sich mit dem Dritten Reich und seinen Menschenvernichtungsprogrammen beschäftigten, weidlich ignoriert worden. Niemand sprach für die Opfer, die selbst nicht anklagten. In Eugen Kogons Der SS-Staat, der ersten Bestandsaufnahme des Terrorapparats, die schon 1946 erschien, finden die Häftlinge mit dem Rosa Winkel Erwähnung (aber zu den wenigen Auskünften gehört auch gleich die Bemerkung: „Haltlose Gefangene (...) haben zuerst durch Homosexualität, dann, nach Ankunft der Jugendlichen, durch Päderastie scheußliche Verhältnisse geschaffen“).

Viele Jahre lang ist im Rahmen der Faschismusforschung zur Verfolgung der Homosexuellen kaum mehr zu erfahren als das: kursorische Erwähnung und Seitenbemerkungen - einer von vielen blinden Flecken im Blick zurück. Erst 1977 werden Ansätze einer sorgfältigeren Untersuchung sichtbar: Der Bremer Soziologe Rüdiger Lautmann gibt einen Sammelband von Arbeiten heraus, die, aus verschiedenen Blickrichtungen, die Diskriminierung von Homosexualität untersuchen.

Dort wird auch das Schicksal homosexueller KZ-Häftlinge in den Blick genommen - gestützt auf Interviews mit ehemaligen Lagerinsassen und auf die Auswertung von Akten des „Archivs des Internationalen Suchdienstes“ in Arolsen, einer Institution, die alles verfügbare Material über die Opfer des Dritten Reiches sammelt. Das Buch bietet eine begründete Spekulation über die Motive, über die Antriebskräfte der ausgeprägten Homophobie der Nationalsozialisten und außerdem einen Bericht über die Ergebnisse einer Befragung zum Thema Antihomosexualität, die R. Lautmann und H. Wienold 1974 durchgeführt hatten. * * *

So sehr man diese sozialwissenschaftlichen Beiträge loben muß - ein gemeinverbindlich geschriebenes Buch zum Thema konnten sie nicht ersetzen. Die Diskriminierung und Verfolgung der Homosexuellen war nicht die Erfindung faschistischer Ideologen. Ihre besonderen Formen und ihre entsetzlich effektive Praxis während des Dritten Reiches im Zusammenhang mit der sozialen Vor- und Nachgeschichte darzustellen, das blieb also eine wichtige Aufgabe.

Nun ist Ende 1989 ein Buch erschienen, daß diese Lücke zu schließen scheint: Hans-Georg Stümkes Homosexuelle in Deutschland . Eine politische Geschichte. Der Klappentext bekräftigt: „Dieses Buch erzählt die Geschichte der deutschen Homosexuellen und ihrer Verfolgung in den letzten 200 Jahren.“

Bei näherem Zusehen erweist es sich als Remake einer Arbeit, die Stümke 1981 zusammen mit Rudi Finkler publiziert hatte: Rosa Winkel, Rosa Listen kam damals unprätentiöser daher, mehr wie ein Band mit Arbeitsmaterialien, vielen Interviews und Faksimiles, und konnte jedenfalls als Pionierleistung gelten. Es gab unter anderem einen ausführlichen Anhang mit Dokumenten zur Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Akzeptanz und legislative Behandlung der Homosexualität seit 1897. Das fehlt in der neuen Fassung; auch die Behandlung der Nachkriegsgeschichte ist deutlich knapper. Zum Ausgleich bietet Stümke ein Einführungskapitel, das im Verlauf von 13 Seiten aus der Antike in die Neuzeit eilt und den Leser dabei mit griffigen Formeln erfreut: „Auch Bürgertum und Sexualität liebten sich nicht.“ * * *

Dennoch ist das Buch materialreich genug, oft schon zu gut bestückt mit Episoden und Details. Es zeigt die Geschichte des Tabus und der Versuche, es aufzuheben, seit dem Wilhelminischen Reich mit allen Bizarrerien und Tragödien: die Heimlichkeiten, die politischen Sittenskandale, die Erpressungen und Denunziationen, die absurden Vorstellungen und die aggressive Abwehr, die das Verhältnis der Mehrheit zur Homosexualität bestimmen.

Dabei scheint es, als habe der lange, zähe Kampf von Pionieren einer Bürgerrechtsbewegung der Homosexuellen, wie Kurt Hiller und Magnus Hirschfeld, Aussicht auf Erfolg gehabt. Am Ende der Weimarer Republik hat sich eine selbstbewußte schwule Subkultur in den Städten gebildet, Hirschfelds „Wissenschaftlich-humanitäres Komitee“ ist nicht ohne Einfluß, eine Liberalisierung der strafrechtlichen Bestimmung scheint greifbar nahe... Dann der drastische Umschwung, die Zerschlagung aller Ansätze und Hoffnungen, der Weg nach unten, immer härtere Verfolgung und zuletzt die Lagerhaft.

Auch dort wirkt die Diskriminierung noch: Schwule Häftlinge sind Parias, ganz unten in der sozialen Hierarchie des Lagers, ohne die Stütze einer Gemeinschaft, etwa im Glauben, in politischer Überzeugung, die den Trägern anderer Farbwinkel noch blieb. Die Männer mit dem Rosa Winkel werden verachtet, zu medizinischen Experimenten mißbraucht, zu den schwersten Arbeiten herangezogen - die Sterblichkeitsziffern sind besonders hoch. Wer überlebte, war nicht so befreit wie andere und durfte sich nicht beklagen. * * *

Und warum diese Kontinuität, und woher der methodische Eifer, mit dem die Nationalsozialisten ein Ausrottungsprogramm für Homosexuelle entwarfen und ins Werk setzten? Unter der fetzigen Kapitelüberschrift „Zwischen KZ und Skalpell“ verspricht Stümke eine Antwort auf die Frage, „warum die Nazis Homosexuelle zu Staatsfeinden erklärten“ sie gerät ihm knapp und schlicht: „Der staatliche Zugriff auf die Sexualität der Bürger, der sich ebenso in dem vielbenutzten Staats-Terminus vom 'gesunden Volksempfinden‘ wie im gültigen Sexualstrafrecht (...) niederschlug, diente traditionell der Absicherung der Fortpflanzungsmoral und ihres sozialen Rahmens, der Familie. Homosexualität aber widersprach prinzipiell beiden Interessen.“

Dem fügten die Nationalsozialisten, an die Macht gelangt durch die „Rechtswendung des Bürgertums“, nur noch ihre rassenpolitischen Sondervorstellungen hinzu: „Die Übersteigerung der traditionellen Fortpflanzungsmoral zur Zuchtmoral bestimmte das typisch Nationalsozialistische an der Homosexuellenverfolgung.“ „Was die Zeit des Dritten Reiches hervorhebt, ist die terroristische Übersteigerung der Verfolgung unter einem rigiden Primat der 'Menschenproduktion‘ auf rassehygienischer Grundlage und dem Willen zu einer 'Endlösung‘ der Homosexuellen-Frage.“

Alle Erwägungen, es könnte die Homophobie auch „als 'Angstabwehr‘ latent homosexueller Bedürfnisse der NS -Führungs-Eliten anzusehen“ sein, verweist Stümke jedenfalls ins Reich „psychologischer Interpretationen von 'Männerbünden'“ und vermutete ein „sexualdenunziatorisches Interesse“ in der linken Tradition einer Verknüpfung von Homosexualität und Faschismus, wie sie die stalinistische Propaganda einst vornahm. * * *

Ob man sich vom Phänomen der „Bünde“ und von psychologischen Kategorien so einfach verabschieden kann, scheint fraglich. Stümke läßt sich von seiner Unterstellung, die Menschenvernichtungsstrategien der Nationalsozialisten seien aus einer bevölkerungspolitischen Logik zu erklären, weit forttragen: Er zitiert eine der bizarren Reden Himmlers, in der unter anderem „berechnet“ wird, wie das „Übergewicht von zwei Millionen Homosexuellen“ dazu beitrage, „den Geschlechtshaushalt Deutschland in Unordnung“ zu bringen, und die in dem Lehrsatz gipfelt: „Ein Volk, das sehr viele Kinder hat, hat die Anwartschaft auf die Weltbeherrschung.“ Und Stümke, als hätte er nachgerechnet, nimmt es als Beweis: „Hier, in dem Streben (...) nach Weltmacht, (... lag) das bevölkerungspolitische Interesse der NS-Führer an der 'Ausmerzung‘ der Homosexuellen.“

Die Aufgabe, die faschistische Steigerung des Antisemitismus zum Vernichtungsprogramm aus politischen Herrschaftsinteressen, eben „letztinstanzlich“ aus der „Logik des Kapitals“ zu erklären, hat in der marxistischen Faschismustheorie schon früh Probleme gestiftet. Und die jüngste Kontroverse über die Frage, ob es eine „Ökonomie der Endlösung“ gegeben habe, in Gang gesetzt durch Thesen von Götz Aly und Susanne Heim, dauert noch an.

Wie vorsichtig man mit Erklärungsansätzen zum Zusammenhang von Nationalsozialismus und Homosexuellenverfolgung umgehen sollte, war schon in dem erwähnten Sammelband von Rüdiger Lautmann vorgeführt worden: In der Krise, in Situationen raschen Wandels jedenfalls, ergängen sich „völkische Ideologie“ und Homophobie im verzweifelten Beharren auf dem Alten gegen das Neue, auf dem Eigenen gegen das Fremde.

Die aufklärerischen Meriten bleiben dem Buch von Stümke, auch wenn es nicht so hellsichtig ist, daß man „die Geschichte der deutschen Homosexuellen“ schon als geschrieben ansehen müßte. * * *

Die Ablehnung des einfachen Bildes vom Nazi als heimlichem Homosexuellen teilt der Autor eines anderen Buches zum gleichen Thema, das erwähnt werden soll, obwohl es bislang nicht in einer deutschen Ausgabe vorliegt. Richard Plant beklagt, in der Einleitung seiner Arbeit The Pink Triangle, die 1986 in den USA erschienen ist, daß, gerade in den populären Darstellungen des Nationalsozialismus, die Verfolgung der Homosexuellen unerwähnt bleibt, zugleich aber jenes Klischee gepflegt wird, das Faschismus und Perversion zusammenführt.

Da erscheint dann Hitler als Homosexueller, treten SA -Männer als Transvestiten auf usw. - und nicht nur in zweifelhalften Machwerken: Plant verweist auf Bertoluccis Verfilmung von Moravias Roman Il Conformista (Der große Irrtum) und Viscontis La caduta degli dei (Götterdämmerung).

Der Unkenntnis und den Mißverständnissen vor allem beim amerikanischen Publikum mit einer populärwissenschaftlichen Arbeit abzuhelfen, das ist Plants Absicht. Es gibt aber auch noch eine persönliche Motivation, deren Geschichte er dem Buch als eine Art Rahmenhandlung beigibt. 1933 war er aus seiner Geburtsstadt Frankfurt in die Schweiz geflohen, nachdem sein Vater, ein jüdischer Arzt, verhaftet worden war. Von Basel aus mußte er der Entwicklung in Deutschland hilflos zusehen. Immer wieder gab es schlimme Nachrichten auch aus der homosexuellen Subkultur, der er angehört hatte. 1938 emigriert er in die USA. Vor allem die Hoffnung, etwas über das Schicksal eines Jugendfreundes zu erfahren, bringt ihn dazu, in den frühen 50er Jahren in die Bundesrepublik zu reisen. Die Nachforschungen führen ihn zum „Internationalen Suchdienst“. Er spricht mit Überlebenden, beginnt das Ausmaß der Homosexuellenverfolgung zu ahnen und ist entschlossen, zur Aufklärung des Geschehens beizutragen. Aber erst nach Jahrzehnten realisiert er den Plan.

Nach einer kurzen Darstellung der Weimarer Republik und der Homosexuellenbewegung konzentriert sich Plant auf die Zeit der Verfolgung und die Situation in den Lagern - ebenso wie Stümke stützt er sich dabei auf eigenes Material und auf die Vorarbeit Lautmanns. Auch Plant führt Himmlers Soll-und -Haben-Rechnung mit der deutschen Manneskraft auf und sieht die bevölkerungspolitischen Programme als Verhängnis der Homosexuellen. Doch er zeigt sich auch fasziniert von Himmler als einer Person, die von Obsessionen und Phobien beherrscht wird, eben auch von wildem Haß auf die Homosexuellen, ein pedantischer Sonderling an der Spitze eines gewaltigen Machtapparats. Und in der Praxis des Terrors, so meint Plant, brauchte keine Logik der Endlösung bemüht zu werden - es genügte das gewöhnliche, seit Generationen eingeübte Ressentiment.

Das Standardwerk zur Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialismus liegt nicht vor. Aber es gibt Versuche, deutlich zu zeigen, was der Rosa Winkel bedeutete.

Edgar Peinelt

Hans-Georg Stümke: Homosexuelle in Deutschland . Eine politische Geschichte. C.H. Beck, München 1989. 184 S., DM 17.80

Richard Plant: The Pink Triangle . The Nazi War Again Homosexuals. Henry Hox, New York 1986. 258 S., 10.95 Dollar (eine vom Autor autorisierte deutsche Ausgabe von „The Pink Triangle“ soll im Frühjahr 1991 im Campus-Verlag, Frankfurt am Main erscheinen)

Seminar: Gesellschaft und Homosexualität, von Rüdiger Lautmann. Mit Beiträgen von Hanno Beth, Jürgen Blandow u.a. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1977