Der Traum vom Fliegen

■ Futurismus und Rationalismus: Eine Ausstellung

Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen..., ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake... Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.(Marinetti)

Panaggis Treno in corso rast aus dem Bildgeviert auf den Betrachter zu. Zug, Geleise und Landschaft lösen sich im Rausch von Geschwindigkeit und Bewegung in ein Ensemble rotierender Formen auf, rotschwarz glühende Farben illuminieren die Kraft, die den Koloß bewegen. Treno in corso ist eine Illustration des futuristischen Programms, das Marinetti 1909 im Pariser 'Figaro‘ zum ersten Mal einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht hatte.

Er war neben Boccioni, der 1916 starb, Kopf der ersten Futuristen aus den sogenannten heroischen Jahren, die eine ästhetische Erneuerung der Kunst auf dem Terrain der Malerei, in Ansätzen auch in Skulptur und Poesie versuchten. Panaggi gehört neben Balla, Depero und Prampolini zur sogenannten zweiten Generation, zusammen mit den Rationalisten der dreißiger Jahre, gegenwärtig im Museum Fridericianum in Kassel zu sehen. Sie wollten eine Erneuerung auf jedem Gebiet. Ihr Manifest von 1915 forderte eine „Futuristische Rekonstruktion des Universums“. Mode, Möbel und Kunsthandwerk, Inneneinrichtung und Stadtplanung, Bühnenbilder und Kostüme, Grafik, Fotografie und Werbung, nichts sollte dem Zugriff der Künstler entgehen. Damit holte der Futurismus in Italien zu einer ähnlich umfassenden Ästhetisierung des Lebens aus, wie sie der Judendstil, die Art deco oder das Bauhaus im Auge hatten.

Reich dokumentiert finden sich in der Ausstellung die Arbeiten von Depero, Munari und Nizzoli für Davide Campari, der Anfang des Jahrhunderts für seine Produkte noch im Stile der Belle Epoque geworben hatte. Der Unternehmer erkannte die Zeichen der Zeit und wußte die Kreativität der Künstler als New Look für sich zu nutzen. Mit Witz und Leichtigkeit gingen diese zu Werke - berühmt bis heute Deperos Design mit dem umgestürzten Glas für Campari Soda. Die Kraftlinien, die für den Futuristen überall spürbar das Universum durchzittern, finden sich auch in Deperos durch das Bildfeld schießender Spirale, an deren Ende wieder das Campari-Glas steht. Nizzoli schafft dynamische Werbebilder. Er bringt die graphischen und typographischen Elemente zum Tanzen, der Schriftzug Campari rutscht zum ersten Mal in die Diagonale. Neu ist auch der Blickwinkel auf das Produkt von oben herab.

Die Vogelperspektive scheint überhaupt charakteristisch für die gesamte futuristische Bewegung. Ein ungebrochener Fortschrittsoptimismus, ein bedingungsloses Technikvertrauen läßt die Künstler an die grenzenlose Verfügbarkeit des Universums glauben. Trotz der Erfahrung des Ersten Weltkriegs ist da nichts von den gebrochenen Visionen der deutschen Expressionisten, der Dadaisten oder französischen Surrealisten. Der Futurist ist besessen von der Figur des Fliegers, Daedalus ist sein Idol: Ingenieur und Künstler, Labyrinthenentwirrer, Aeronaut. Ein faustischer Blick auf die Welt, auf Landschaft und Materie, die sich auflöst in eine energetische Struktur aus Farben und Formen. In Ballas Vortice della vita wirbeln rosafarbene Blüten wie Papierflieger in einen Strudel apfelgrüner Wellen, ein Sog, der auch den Betrachter erfaßt. Der Flug als Schöpfung, ein Aufbäumen gegen die Schwerkraft althergebrachter Lehren. Die Geliebte des Fliegers heißt eine federleichte Papierkonstruktion, herausfordernd blickt sie in eine heroische Zukunft. Ihr gegenüber eine Porträtskulptur des Duce, die Visage zur Maske eines mythischen Kriegerpiloten abstrahiert.

Vielleicht war es ja dieser heroische Herrschaftsblick, der Blick vom Campanile, der den Futurismus für den Faschismus kommensurabel machte. Anders als in Deutschland wurde in Italien die Moderne nicht stranguliert, gab es keine Aktion „Entartete Kunst“. Ja, im Gegenteil, der Duce zitierte bei seinen Reden aus den Manifesten Marinettis. In der „Casa del Fascio“, im Haus der faschistischen Partei, das Ferragni zwischen 1932 und 1936 in Como gebaut hatte, saßen die Faschisten auf Stühlen, deren geometrische Poesie das Bauhaus entzückt hätte, und schauten auf eine abstrakt -konstruktivistische Wanddekoration und auf ein Porträt des Duce, das von Schlemmer oder dem maschinenbesessenen Leger hätte stammen können.

Umgekehrt hatte für Ferragni der Faschismus auch die Signatur einer mythischen, „antiken“ Ordnung, und selbst die abstrakten Maler meinten, mit wenigen Ausnahmen, in Mussolinis Regime ihre Vorstellungen von Rationalität und Ordnung verwirklicht zu sehen.

Während sich die dynamischen Strukturanalysen an der kubistischen Syntax orientieren, sehen die italienischen Rationalisten ihr Vorbild eher in Mondrian und „De Stijl“, in Malewitsch und dem Suprematismus. Die Rationalisten zeigen die Welt als Schachbrett sich ineinander schiebender schwarzer, roter und gelber Balken. Bilder, die aussehen wie Straßenkarten und Stadtpläne.

In Veronesis 14 Variationen zu einem malerischen Thema sammeln sich Gerade, geschwungene Linie, Kreuz und Rechteck zu immer neuen Formationen und Variationen von Flugobjekten, Flügeln und Flugbahnen in wunderbar schwebender Leichtigkeit, wobei die Farben Grün, Braun und Schwarz kompositorisch Volumina und Schwerpunkte setzen. In der Komposition Nr.7 von Reggiani durchdringen sich grau- und schwarztönende Rechtecke und Quadrate zu räumlicher Erfahrung, daneben stehen zarte Notenlinien, über marmorierten, historisierenden Weißflächen schwebt ein auf die Spitze gestelltes, gelbes Quadrat. Eine Sublimierung Mondrianscher Erfahrungen, vielleicht eines der schönsten Bilder der Ausstellung.

Auch der Liebe der Rationalisten zur Geometrie unterwirft sich die Welt in einem Blick, der oft genug von oben nach unten geht; dies vielleicht das verbindende Glied zwischen den Futuristen und Rationalisten in Kassel. Nur der „Rhythmus der Erregung“, von dem Malewitsch sprach, wird bei den Rationalisten in einer quasi mathematischen Ordnung diszipliniert. Die Figuration wird ersetzt durch die malerische Formel, die Bildfabel durch abstrakte Form- und Farbstrukturen. Eine spannende Ausstellung.

Michael Stoeber

Bis zum 25.März im Fridericianum Kassel, opulenter Katalog, 48 DM.