Dein Kurti

■ Gestern vor 90 Jahren wurde Kurt Weill geboren. Der Autor hat bislang unveröffentlichte Briefe des Komponisten gesichtet und berichtet im folgenden Neues über Weill, Krupp und Brecht

Frieder Reininghaus

Zusammen mit Bertolt Brecht sorgte Kurt Weill 1928 für eines der großen Theaterereignisse der zwanziger Jahre: Die Uraufführung der Dreigroschenoper. Ein Jahrzehnt der heftigen Anstrengung um einen neuen Weg der Musik und des Musiktheaters waren dieser Kunst der „gesellschaftlich -polemischen Schlagkraft“ vorausgegangen.

Spätestens mit siebzehn hatte Weill begonnen, als Pianist und Begleiter zum Unterhalt der durch den Weltkrieg verarmten Familie des Dessauer Synagogen-Kantors Albert Weill beizutragen. Der scharfe Blick also kommt nicht von ungefähr, genausowenig das aufmerksame Ohr, dem die Sehnsüchte der Vielen nicht entschwinden: Weill kannte den Mangel von Kindesbeinen an. Die Not ließ bei dem begabten und besonders geförderten Schüler früh die Einsicht in die Notwendigkeit exzessiver Arbeit erhärten. Der frühreife Musiker besaß ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein und war vom unangefochtenen Bewußtsein seiner künstlerischen Kompetenz erfüllt.

Anhand eines Dutzend bislang unveröffentlichter Briefe, welche die „Kurt Weill Foundation for Music“ dem Westdeutschen Rundfunk für das vom WDR initiierte und maßgeblich getragene Weill-Festival in Nordrhein -Westfalen (21.März bis 29.April in Düsseldorf, Duisburg, Köln und Bielefeld) zukommen ließ, können hier einige durchaus neue Aspekte im Leben des deutschen Tonsetzers und Theoretikers gezeigt werden, der 1933 über Paris und London in die Vereinigten Staaten emigrierte und mit Leib und Seele ein American Composer wurde. „Nur Musik sein“

Hanns Weill, ein Jahr älter als Kurt, wurde 1917 zum Kriegsdienst eingezogen. der kleine Bruder schrieb am 26.Juni 1917 an den größeren: „Arbeit ist jetzt das schönste; da vergißt man so manches.“ Er berichtet über einen geplanten Auftritt mit dem Dessauer Musikdirektor Bing, seinem Lehrer, und kommt dann auf ein Konzertangebot zu sprechen, das Hanns vermitteln wollte: „Daß ich gutes, lohnendes Publikum haben werde, daran zweifle ich nicht, sonst würdest du mich ja auch nicht spielen lassen. Von den jüdischen Komponisten käme für mich zum Spielen nur Mendelssohn in Betracht; ich müßte also etwas studieren.“ Und acht Wochen später: „Ich werde mir auch künftig meine Gage nach Minuten berechnen lassen, und zwar die Minute 1,50 M; ich habe nämlich knapp zehn Minuten gespielt, geprobt haben wir auch nicht, und dafür bekomme ich 15,- M und dazu noch mit vielen Entschuldigungen, daß es nicht mehr ist. Außerdem habe ich wieder wunderbar gegessen, vor allen Dingen Kuchen in solchen Mengen, daß mir heute beim bloßen Gedanken daran schon der Bauch wackelt. In dem Konzert war mächtiger Betrieb mit Mädeln, und ich habe ganz schönen Spaß gehabt.“ (20.August 1917)

Kurt Weill sehnte sich weg aus Dessau und der kleinbürgerlichen Enge: „Ach, ich möchte jetzt so ein nettes kleines Zimmer haben, in Berlin, in Leipzig, in München, und ein Schrank voll Partituren und Büchern und Klavierauszügen und Notenpapier und arbeiten, daß die Schwarte knackt und einmal ohne Hausvatersorgen, ohne Schulkram, ohne Einberufungssorgen hintereinander aufschreiben, was mir meinen Kopf manchmal fast bersten macht und nur Musik hören und nur Musik sein. Ja, ja, was man so alles will, und Herr Hindenburg macht nicht mit. Aber Du brauchst nicht denken, daß ich nun den Kopf immer hängen lasse und alles schwarz sehe. Nein, erstens glaube ich ja immer noch, daß der Krieg dieses Jahr noch aufhört, glaube ja immer noch daß 'Wenn die Not am höchsten steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht‘.“ Das Zitat versah Kurt Weill mit Musik - mit einer ironischen Adaption des Abendsegens aus Engelbert Humperdincks Oper Hänsel und Gretel.

Ein paar Monate später hatte es der junge Weill geschafft: er wohnte in Berlin und war Schüler des Direktors der Theorie- und Kompositionsklassen an der Musikhochschule: „Durch einen bloßen Zufall bin ich zu Humperdick gekommen. Man hatte mich nämlich mit einem anderen verwechselt, der nur einmal angefragt hatte, ob er bei H. Unterricht kriegen könnte. Obwohl die Herren Professoren ziemlich abfällig von ihm reden, bin ich ganz zufrieden mit der Sache und hoffe, daß ich, wenn ich arbeite, bei ihm mindestens so viel lerne wie bei Prof. Koch, mit dessen Oper das Deutsche Opernhaus seine liebe Not hat. Und jedenfalls bedeutet es schon etwas, überhaupt bei Humperdick gewesen zu sein.“ (9.Mai 1918)

Es bedeutete wirklich etwas: Humperdinck, längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit, hat Kurt Weill wohl weit stärker geprägt, als man es später unter vereinnehmendem linken Blickwinkel oder vom Standpunkt der Avantgarde aus wahrhaben wollte. Bei Humperdinck lernte Weill das Handwerk und zugleich das, was Ernst Bloch als die „faulen Wasser“ beschrieb, aus denen dieDreigroschen-Musik und so manche später am Broadway erfolgreiche Nummer geschöpft ist.

Kurt Weill blieb der Kriegsdienst erspart, er wurde freigestellt. Er stürzte sich in die Arbeit, selbst am Wochenende, „während die Gojim in den Himmel d.h. nach Grunewald und Wannsee, fahren“. Nach einem Intermezzo im „Revolutionären Studentenrat“ an der Berliner Musikhochschule, der ihn zum Vorsitzenden wählte und den damals zur Speerspitze des Fortschritts zählenden Komponisten Ferruccio Busoni als Hochschuldirektor durchsetzte. Für kurze Zeit wurde Weill dessen Schüler (und der Meister orakelte, er könne ein „Verdi der Armen“ werden), ging dann als Korrepetitor zurück ans Dessauer Thater, wenige Monate später als Kapellmeister nach Lüdenscheid und dann wieder ins gärende Berlin: Er machte durch Kammermusik in den Avantgarde-Zirkeln auf sich aufmerksam; gab an der einen Ecke Berlins Klavierstunden, an der anderen Kompositionsunterricht und dirigierte aushilfsweise am Kurfürstendamm.

Weill schrieb über und für den gerade im Entstehen begriffenen Rundfunk. Bereits 1925 resümierte er: „Die allmähliche Entstehung einer solchen Einrichtung hängt aufs innigste zusammen mit der Entstehung einer neuen Gesellschaft. In erstaunlich kurzer Zeit ist der Rundfunk einer der wesentlichen Faktoren des öffentlichen Lebens geworden. Dieser Rundfunk hat als 'Kunstindustrie‘ jetzt bereits eine Bedeutung erlangt, wie sie niemals vorher eine ähnliche Einrichtung besessen hat.“ Gut zehn Jahre vor Horkheimers und Adornos Abhandlung über die „Kulturindustrie“ brachte Kurt Weill - freilich eher deskriptiv, weniger analytisch und polemisch - den Begriff der „Kunstindustrie“ in Umlauf.

Durch den Expressionisten Georg Kaiser kam er zum Musiktheater. Seine Tätigkeit in Berlin fing mit der Zusammenarbeit für die einaktige Oper Der Protagonist an, und kurz vor Weills Flucht im Frühjahr 1933 wurde noch Der Silbersee uraufgeführt - eine zutiefst sozial gestimmte und bemühte Operette. Nachhaltiger wirksam aber war Weills Begegnung und Verbindung mit Brecht. Das Konzept des „epischen Theaters“ geht auf den Komponisten sosehr zurück wie auf den Lyriker und Stückeschreiber, auch wenn der dann den größeren Ruhm dieser (aus der Frühgeschichte der Oper gewonnenen) Errungenschaft davontrug - dank der in Ost-Berlin ansässigen Erbe-Verwaltungs-Gesellschaft. Mahagonny, 1927 in Baden-Baden uraufgeführt, elektrisierte die Insider, sorgte in der ausgeweiteten Opernfassung 1930 im wohlbürgerlichen Leipzig für einen veritablen Theater -Skandal. Aber die höhnische Schärfe der Weillschen Musik zog, allem konservativen Unmut, der rechten Polemik und Störmanöver zum Trotz, ihre Erfolgskurven. Der Kanonensong und die Seeräuberjenny traten ihren Siegeszug um die Welt an. Weill erreichte in vulgärer Maske, mit leichter Hand und einer vor sechzig Jahren als ätzend empfundenen Mischung viele, an welche die vorgeschrittene Musik nicht herankam.

„Ich wünschte manchmal, ich könnte mehr, als ich es tue, Euer Leben mitleben“, schrieb Weill 1925 an seine Eltern, als er unter Hochdruck den von Iwan Goll gelieferten Text zu Royal Palace in Musik setzte - eine Musik des Übergangs von der hoch differenzierten Partitur des Protagonisten zur neuen Einfachheit der Dreigroschenoper. In dem Brief an die Eltern heißt es weiter: „Ich mache jetzt die Jahre durch, wo der Künstler ständig auf dem Pulverfaß ist, wo eine gesteigerte Überempfindsamkeit einen ständigen Zustand der Spannung, der Erregung erzeugt. Nur so könnt ihr manches begreifen, was Euch an mir vielleicht unverständlich erscheint. Jetzt hat es mich aber gepackt. Ich bin eingegraben in diese neue Oper; ich gehe nur zur Erledigung der wichtigsten äußeren Dinge aus dem Hause. Ich muß einen Ausdruck meistern, der mir noch neu ist.“

Und dann stellt Weill mit Freude fest, daß seine Musik „viel sicherer, viel freier, lockerer und - einfacher wird. Das hängt auch damit zusammen, daß ich äußerlich unabhängiger, sicherer, heiterer und weniger verkrampft geworden bin. Daran hat natürlich das Zusammenleben mit Lenja wieder starken Anteil. Das hat mir sehr geholfen. Es ist ja die einzige Art, wie ich einen Menschen neben mir dulden kann: ein Nebeneinander zweier verschiedener künstlerischen Interessen, ohne innere Bindung, jeder auf seinem Weg durch den anderen gefördert. Wie lange das geht? Ich hoffe: recht lang.“ “...arbeite wie ein Wilder“

An sein „Tütilein“, an die Lotte Lenya, schrieb Weill 1927 von einer Exkursion, die er zusammen mit Brecht unternahm, um ein großes, allerdings nicht zustande gekommenes Ruhrepos vorzubereiten: „Der Flug war herrlich. Das Sicherheitsgefühl ist geradezu erstaunlich und man ist viel weniger nervös als in der Eisenbahn. Der schönste Moment ist der, wenn das Flugzeug sich ganz langsam in die Luft hebt.“

Überhaupt ist man ganz der Zukunft zugewandt. „Montag abends gingen wir quer durch die Werke, wobei einige überwältigende akustische Eindrücke mir plötzlich eine ganz neue Klangvorstellung für das Stück gaben. Dienstag sind wir zehn Stunden mit dem Auto durchs ganze Ruhrgebiet gefahren, bis zum Rhein. (...) Als wir aus dem giftigen Qualm des Ruhrtales an den klaren hellen Rhein kamen, dachten wir schon: bloß nicht mehr zurück in die Giftgase! Und weiter: wie schön wäre es, die bunte Lebendigkeit dieses Stromes zu gestalten anstelle der düstergrauen Fabriken da hinten. Aber als wir dann am anderen Mittag aus dem Bergwerke wieder ans Tageslicht kamen, da war es klar: das furchtbare Grauen da unten, die maßlose Ungerechtigkeit, daß Menschen 700 Meter unter der Erde in völliger Finsternis, in einer dicken schweligen Luft eine unerträglich schwere Arbeit verrichten, nur damit Krupp zu ihren 200 Millionen jährlich noch fünf hinzuverdienen - das muß gesagt werden, und zwar so, daß es keiner mehr vergißt. (Aber es muß überraschend kommen, sonst stopfen sie uns den Mund!).“ Nach der Bergwerksbesichtigung am Mittwoch noch ein versöhnlicher stimmender Rundflug am Donnerstag; „dann waren wir stundenlang in den Stahlwerken bei Krupp, das war ungemein erfrischend und beruhigend nach dem schrecklichen Eindruck. (...) Von morgen ab arbeite ich wie ein Wilder an der Kaiser-Oper (Der Zar läßt sich fotographieren). Wenn die nicht in 2 bis 3 Monaten fertig ist, bin ich vollständig aufgerutscht. (...) Addio mein Seelchen. Ich freue mich auf Dienstag. Grüße an jeden, der gut zu Dir ist. Und viele Bussis auf Dein ...lein - Dein Kurti.“ (Da hat wohl die Witwe Lenya etwas unleserlich gemacht). Einst aber, im Frühling ihrer 25 halbwegs gemeinsamen Jahre, da notierte der „Kurti“ seinem „Tütilein“ ein paar wundervoll triviale, unendlich schöne Takte Musik unter den Bericht von der Front des Ruhrepos: „Auf dem Monde sind fünfzehn Sterne, die lieben sisch und misch.“

Die „neue Gesellschaft“, von deren Kommen Kurt Weill Mitte der zwanziger Jahre überzeugt war, kam gründlich anders als von ihm erwartet. Schon im November 1918 hatte er über seine Befürchtung geschrieben, die Juden würden am Ende für das Chaos und die Turbulenzen verantwortlich gemacht. 1933 suchte er vor der ihm drohenden Verfolgung das Weite - auf ziemlich abenteuerliche Weise. Einige Zeit fand er in Paris Unterschlupf, lieferte dort die charmante Theatermusik Marie galante ab. 1935 führte er auf der Durchreise in London die Operette A Kingdom for a Cow (deutsch demnächst erstmals in Düsseldorf und Köln als Der Kuhhandel). Als sein Dampfer in New York anlegte, da war ihm, als sei er nach Hause gekommen. Mit Johnny Johnson, Knickerbocker Holiday, The Lady in the Dark und Street Scene wurde Kurt Weill zum amerikanischen Komponisten. Sein neuer (amerikanischer) Patriotismus war weder Attitude nach Opportunismus. So kam der Wunsch, ein großes Nationalepos der USA auf die Beine zu bringen, aus tiefster Seele. Im August 1937 schrieb er an den Textdichter Paul Green: „Von Präsident Rossevelts Rede auf Roanoke Island bin ich sehr beeindruckt. Ich denke, daß einige Punkte, die er ansprach, genau den Kern unseres geplanten Stückes abgeben könnten. Vielleicht erinnerst Du Dich, was ich in Chapel Hill sagte: Ich hätte das Gefühl, daß die meisten Menschen aus denselben Gründen wie ich in dieses Land kamen - auf der Flucht vor dem Haß, der Unterdrückung, der Hektik und dem Chaos der alten Welt und um Freiheit und Glück in einer Neuen Welt zu finden.“

Besonders angetan hatte es Weill ein zentraler Gedanke der Roosevelt-Rede - und aus ihm sollte das Nationalepos gezimmert werden: „Wenn gewisse moderne Amerikaner, die lautstark ihre Ergebenheit gegenüber den amerikanischen Idealen beteuern, plötzlich einen umfassenden Blick auf die frühesten Siedler in Amerika, auf deren Lebensstil und Selbstverwaltung zu werfen genötigt wären, dann - so fürchte ich - würden sie diese Einwanderer umgehend als Sozialisten denunzieren. Sie würden vergessen, daß in diesen Pionier -Gründungen alle Wurzeln der späteren amerikanischen Verfassung stecken.“

Die Auffassung von Sozialismus, den Brecht und Weill kultivierten und propagierten, war schon in den zwanziger Jahren nicht identisch gewesen. An entscheidenden Punkten wie in seinen Aufsätzen über das entstehende „Radiowesen“ neigte der junge Weill sozialdemokratischen Anschauungen zu, seine Essays über Beethoven, Weber und Busoni sind - wie die Texte zur Oper - nicht sonderlich links gestimmt. Sowenig Weill die anarchischen Anwandlungen Brechts geteilt hatte, sowenig stimmte er in die Parteinahme für den Kommunismus ein. Nach der Einwanderung in die USA, vor dem Hintergrund der stalinistischen Schauprozesse und dem Vordergrund der amerikanischen Annehmlichkeiten, gingen die Positionen des Dichters und des Musikers noch stärker auseinander. Gewiß, Weill überschätzte zunächst das musikalische Fassungsvermögen des durchschnittlichen Broadway -Theatergängers und dessen Willen, sich etwas anderes als gängiges Entertainment 'reinzuziehen; aber er hatte kein missionarisches Sendungsbewußtsein, wollte die - zunehmend reduzierten - „Botschaften“ nur mit der List des Unterhaltsamen an den Mann und die Frau bringen. So erklären sich auf die Differenzen zwischen Brecht und Weill in der Nachkriegszeit, über die bislang des Sängers und der Biographen Höflichkeit schwieg. Weill war keineswegs gewillt, die „Aktualisierungen“, die Brecht der Dreigroschenoper in der Sowjetischen Besatzungszone angedeihen ließ, zu akzeptieren - und außerdem hatte der Komponist im fernen Amerika die (berechtigte) Befürchtung, daß er vom Dichterfürsten der DDR finanziell übern Tisch gezogen würde (Brief vom 17.Januar 1949, siehe Kasten).

Wenn in zehn Jahren die Bilanz der Musikgeschichte und des Musiktheaters im 20.Jahrhundert gezogen wird, dann dürfte auf mehreren Positionen - der Name Kurt Weills hervorragen, auch wenn man sich zwischenzeitlich an seinen Anti-Schlagern sattgehört hatte und einem der Dreigroschenton so verschlissen vorkommt wie der Broadway-Weill. Das alles ist ja längst, und unwiederbringlich, historische Musik. Weill aber wird, wie sonst nur noch Alban Berg und Richard Strauss, Giacomo Puccini und Franz Schreker das Musiktheater in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts repräsentieren.