...neue gesamtdeutsche Verfassung?

■ Die Arbeitsgruppe "Neue Verfassung" will dem Runden Tisch einen DDR--Verfassungsentwurf vorlegen

D-Mark und Grundgesetz - mit diesem Doppelbeschluß, so scheint es, will eine breite Mehrheit der bundesrepublikanischen Politik die deutsche Einheit bewerkstelligen. Und zwar schnell. Es versteht sich von selbst, daß die Anbieter von der DDR-Bevölkerung Dankbarkeit erwarten. Dabei ist die große Koalition des „Anschlusses“ ans Grundgesetz - nach Artikel 23 GG - durchaus widersprüchlich, sie reicht vom Liberalen Robert Leicht bis zur CSU und auch in die Parteienlandschaft der DDR hinein. Die Parteien, für die der Kampf um die gesamtdeutschen Mehrheiten begonnen hat, können sich mit dem Gedanken einer verfassungsgebenden Versammlung - die Alternative zum Beitritt der DDR oder ihrer Länder nach Artikel 23 - kaum befreunden. Geschweige denn, daß sie im Wahljahr 1990 darauf vorbereitet sind. Die CDU/CSU will gar nicht erst politische Strukturen einer eigenständigen Verfassungsrealität der DDR zulassen, die die DDR in eine politische Parität bei den Verhandlungen über das Procedere der deutschen Vereinigung setzen würde. Das würde den Prozeß zur Einheit so verlangsamen, daß Kanzler Kohl die Einheit dem Wahlvolk nicht mehr als Morgengabe überreichen könnte. Darum auch die Forcierung der Übernahme durch die Währungsunion. Die SPD will ihre Chance auf die Mehrheit nicht durch Zweifel am Einigungswillen gefährden. Und die Grünen haben im entscheidenden Moment darauf verzichtet, die Debatte um eine gesamtdeutsche Verfassung voranzutreiben, um ihre Trauerzeit über die verlorene Zweistaatlichkeit nicht zu verkürzen.

Trotzdem hätte man denken sollen, daß spätestens nach Modrows Bekenntnis zu „Deutschland einig Vaterland“ die Stunde der Verfassungsrechtler geschlagen habe. Immerhin gibt es die breite Lehrmeinung, daß das Grundgesetz eine Übergangsverfassung sei und der Schlußartikel 146 eine Verfassungsgebung für den Fall einer Wiedervereinigung bindend vorschreibe. Aber erst jetzt, so scheint es, beginnen die Interventionen von Expertenseite.

Auch in der DDR, der die BRD-Experten keinen positiven Beitrag zur Verfassungsentwicklung zutrauen, hat sich der Wind gedreht. Die Verfassungsdebatte, die seit Ende 1989 mit der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung“ des Runden Tischs begonnen hat, wird nun von einem Geist getragen, den die PDS -Staatsrechtlerin Rosemarie Will so formuliert: „Im Prozeß der Einheit die Identität der DDR feststellen.“ Diese Arbeitsgruppe, zusammengesetzt nach dem Parteien- und Gruppenspektrum am Runden Tisch, will diesem am 12.März, in seiner letzten Sitzung vor der Wahl, einen ersten Verfassungsentwurf vorlegen. Für den 17. Juni schlägt sie einen Volksentscheid zur Verfassung vor.

Die Geschichte dieser Verfassungsarbeit reflektiert die jüngste Geschichte der DDR. Im Dezember hohe Motivation; Verfassungsarbeit als Teil der Demokratisierung; Zerschlagung der alten Verfassung und der SED-Herrschaft. Die Beteiligung war wechselnd und von unterschiedlicher Reife. Der Demokratische Aufbruch glänzte durch Abwesenheit; die SPD-Mitglieder vertraten, ihrem Leipziger Parteitagsbeschluß folgend, daß das Parlament verfassungsgebende und gesetzgebende Körperschaft in einem sein soll - was bei entsprechendem Wahlausgang wieder auf einen Führungsanspruch einer Partei hinauslaufen würde. Problem der Arbeit war auch der „Rechtsnihilismus“ der vierzig Jahre SED-Herrschaft.

Der Zeitmangel zwang die Arbeitsgruppe zu einem Verzicht auf eine Gesamtverfassung, da sie vorher Zeit bei der Überarbeitung anstehender Gesetze verspielt hatte (Wahlgesetz, Joint-venture-Gesetz, Gewerkschaftsgesetz). Unter hohem Tempo mußten die Artikel manchmal nach dem Baukastenprinzip formuliert werden. Was aber nun als Grundsätze und Einzelregelungen dem Runden Tisch vorgelegt werden soll, muß jetzt schon als ein substantieller Anstoß zu einer gesamtdeutschen Debatte gewertet werden.

Bis dato ausgearbeit wurde der Grundrechtskatalog, Fragen der Eigentums- und Wirtschaftsordnung, des Staatsaufbaus, der politischen Willensbildung. Der Katalog der Grundrechte ist wesentlich umfangreicher als der des Grundgesetzes, er umfaßt 31 Artikel (!). Angestrebt wird eine Verbindung von allgemeinen Menschenrechten, Bürgerrechten und sozialer Existenzsicherung. Das „Recht auf Arbeit“ (Art.15,1), das Recht „auf ein Leben in einer gesunden Umwelt“ (Art.22,1) und das Recht auf „angemessene Wohnung“ (Art.16,1,2), dem Recht auf Eigentum übergeordnet, werden festgeschrieben. Grundrechtsformulierungen, die im Rahmen einer verfassungsgebenden Versammlung einen Grundsatzstreit auslösen würden. Den Verdacht, hier werde gewissermaßen die Entwicklung einer humaneren Gesellschaft vorab kodifiziert, wehren die Autoren ab. Sie betonen, daß durch die Verfassungsdiskussion jetzt auch die Verfassungsrealität definiert werden müsse. Die genannten Grundrechte formulieren nach der Meinung der Arbeitsgruppe „einen neuen Konsens in der DDR, „der auf jeden Fall nicht beim Grundgesetz liegen kann“ (Rosemarie Will). Gerade die weitgehenden sozialen Grundrechte wollen die Autoren - mit dem Verweis auf vierzig Jahre DDR - nicht dem Gesetzgeber überlassen.

Modern ist der Entwurf, weil er die Menschenrechte durch die detaillierten Minderheitsrechte konkretisiert. Auch das Asylrecht (auf Intervention des ehemaligen BRD -Verfassungsrechtlers Helmut Simon aufgenommen) und das Wahlrecht für Ausländer finden sich in den Grundrechten. Aus der Erfahrung der DDR heraus wurden penibel Sicherungen der bürgerlichen Freiheiten gegen den Staat entwickelt. Eine gewisse antifaschistische Schutzmentalität förderte dabei fragwürdige Verbote und Einschränkungen der Meinungsfreiheit bei rassistischen oder neonazistischen Äußerungen. Womöglich wird das von der Redaktionskommission noch einmal überprüft. Auf jeden Fall ist der vorliegende Entwurf „das eigentliche Vermächtnis des Runden Tisches“ (Klaus Wolfram vom Neuen Forum). Mit skeptischem Stolz formulierte Gruhl, der Vertreter von Demokratie Jetzt: „Auch wenn wir eine Paulskirchen-Verfassung machen - wir machen sie“.

Klaus Hartung