DDR-Befindlichkeit als Politik-Ersatz

■ Der zentrale Runde Tisch verabschiedete eine Sozialcharta „Wunschvorstellungen“ einer DDR-Indentität lösen unverhohlene Heiterkeit aus

Niederschönhausen (taz) - „Wir sollten uns dieses Papier als Dokument gut aufheben, als Dokument eines sozialen Denkens, das hier gewachsen ist und das eingehen sollte - wohin auch immer“, sagte der Vertreter der Vereinigten Linken, Michael Mäde am Montag am Runden Tisch. Bevor die Minister ohne Geschäftsbereich Gerd Poppe und Tatjana Böhm das Flugzeug nach Moskau bestiegen, um mit dem Rest der Modrow-Crew über die Modalitäten des deutschen Einigungsprozesses zu verhandeln, legten sie dem Runden Tisch eine 9-Punkte umfassende Sozial-Charta vor. Sie soll der Regierung als Verhandlungsgrundlage übergeben werden, um soziale Sicherungen der DDR, ergänzt um Höchstforderungen internationaler Gremien, die in ihrer Konsequenz weit über das Grundgesetz hinausgehen, auch im künftigen Einheitsstaat zu erhalten. Nicht nur die Vertreter der Vereinigten Linken waren sich der Tatsache bewußt, daß hier eher Wunschvorstellungen gebündelt wurden als eine reale Verhandlungsbasis.

Die vorgestellte Sozialcharta umfaßt das Recht auf Arbeit für alle (dieser Punkt wurde durch den Ergänzungsantrag der SPD gemildert, der keine staatliche Garantie für dieses Recht vorsieht), die Demokratisierung und Humanisierung des Arbeitslebens, die Gleichstellung der Geschlechter und der Kinder einschließlich des Selbstbestimmungsrechtes der Frau und der Möglichkeit kostenlosen Schwangerschaftsabbruchs, das Recht auf kostenlose Bildung, auf Studienplatz mit Stipendium, die Fürsorge der Gesellschaft für ältere Bürger, die soziale Integration und Betreuung von Behinderten, das Recht auf Wohnen („der Kündigungsschutz und das Eigentum der DDR-Bürger an Wohnraum, sind zu bewahren“) und das Recht auf ein soziales, einheitliches und staatliches Versicherungssystem.

In der anschließenden Diskussion am Runden Tisch am Montag vormittag bemühten sich alle politischen Gruppierungen im Schatten des Wahlkampfes diesen populistischen Konsens nicht zu torpedieren. Allein der Vertreter der LDP ließ in seinen zustimmenden Ausführungen anklingen, daß dieses Papier für ihn eine noch existierenden „besonderen DDR-Befindlichkeit“ geschuldet ist, die hoffentlich in fünf Jahren nicht mehr existiert.

Die CDU versuchte eine eigene Position zum Thema Schwangerschaftsabbruch einzubringen, ohne es jedoch unbedingt auf einen Eklat ankommen zu lassen.

Zu Beginn der Beratung betonte Tatjana Böhm noch einmal, daß für den Runden Tisch ein Anschluß nach Art. 23 des Grundgesetzes nicht zur Diskussion steht. Vielmehr glaubt sie, sollten die beiden deutschen Staaten in einen „wechselseitigen Reformprozeß“ zusammenwachsen, um damit als Modell für eine künftige Einigung Europas dienen zu können.

Bei den Vertretern der westlichen Medien, für die diese Sitzung des Runden Tisches anscheinend Kuriositätencharakter trug, löste diese Vorstellung unverhohlene Heiterkeit aus. Der smarte N3-Talkmaster wendete sich nach der Böhm-Äußerung lieber dem Gespräch mit einem Bild-Lesenden Kollegen zu.

Bei der abschließenden Abstimmung votierte die Mehrheit für die Vorlage, allein die Vertreter des Demokratischen Aufbruch und die Vereinigte Linke enthielten sich der Stimme - die Linken weniger wegen der weitgehenden sozialen Forderungen, sondern wegen der in der Präambel der Sozialcharta festgeschriebenen deutschen Einheit.

Anja Baum / Andre Meier