Standbild: Ein bißchen Voyeurismus für alle

■ Leben in "Chelsea" - eine Herberge in New York

(Leben im „Chelsea“ - eine Herberge in New York, So., 4.3., ZDF, 19.30 Uhr) Obwohl der Fahrstuhl ständig kaputt ist, sich der Müll stapelt, es von Mäusen wimmelt und sich genauso viele Hunde durch die Drehtüre leiern wie Menschen, ist es der begnadete Ort auf Erden: Das Chelsea-Hotel, Manhattan, 23. Straße. Ein Ort, an dem nicht nur die Kreativität blüht, sondern gleichzeitig noch unentdeckte Künstler in den warmen Schoß der Familie aufgenommen werden und den nötigen seelischen und finanziellen Beistand bekommen. Hier wurden und werden nicht nur stapelweise Bestseller geschrieben, -zig berühmte Bilder gemalt oder Stücke komponiert. Der Schriftsteller Brendan Behan schaffte es sogar, im Chelsea mit seiner Frau das seit Jahren ersehnte Kind zu zeugen. Das reinste Paradies, behauptet jedenfalls Stanley Bart, stolzer Besitzer der Herberge für jegliche Art von Paradiesvögeln. New Yorks langjähriger Bürgermeister Ed Koch bezeichnete das Hotel gar als Wahrzeichen seiner Stadt und ließ es als nationales Denkmal eintragen. Um auch wirklich alle Fernsehzuschauer von der Einmaligkeit des Chelseas zu überzeugen, boten Gabriele Walther und Robert Dornhelm in ihrem Beitrag alles auf, was Rang und Namen hat: Mark Twain, Tennessee Williams, Arthur Miller oder William S. Burroughs für die angehenden Schriftsteller, Janis Choplin, Jimmy Hendrix oder Bob Dylan für die gealterten Apos, Marcel Salinas, Andy Warhol und den Starverpacker Christo für die Kunstbeflissenen. Auch die Punks kamen nicht zu kurz. So durfte der erste Stock des Hotels bestaunt werden, in dem sich das Paradies einmal in die leibhaftige Hölle verwandelte: Hier erschoß Sid Vicious seine Geliebte Nancy und brachte sich anschließend selbst um die Ecke. Was das Chelsea jedoch außer meist verjährten Klatschgeschichten aus der Künstlerwelt zu bieten hat, war in dem Beitrag nicht zu erfahren. Nichts, was zum Wohnen einlud, wenn man sich nicht für ein unentdecktes Genie hält oder gerade eine Wallfahrt zum Ort seines jahrelang vergötterten Idols unternehmen will. Statt dem bekannten Klatsch und Tratsch aus Königs- und Fürstenhäuser zeigte das ZDF 45 Minuten die wunderbare Großfamilie der Künstler. Gelangweilt von den voyeuristisch vorgeführten Exzentrikern wollte ich schon abschalten. Kurz vor Schluß zeigten die Autoren jedoch, daß sie wirklich an alle gedacht haben: Selbst mein heimliches Idol, der Science-fiction -Schriftsteller und Erfinder des geostationären Orbits, Sir Arthur C. Clark, lebte fast ein Jahr im Zimmer 331 des Chelsea. Dort zimmerte er das Drehbuch-Gerüst für Stanley Kubricks 2001 - Odysee im Weltall zusammen. Sein Paradies ist jedoch nicht die Exotenabstiege in Manhattan, sondern die Insel Sri Lanka. Dort lebte der heute über 70jährige, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, seit mehr als 30 Jahren. Für mich ein Grund mehr, ihm Respekt zu zollen.

Marina Schmidt