Der Abschied vom Proletariat

„In gewisser Weise ist die wirtschaftliche Entwicklung Boliviens seit 1985 ebenso bemerkenswert wie die ökonomische Krise in der ersten Hälfte der Dekade. Im Herbst 1985 gelang es der Regierung von Präsident Victor Paz Estenssoro, die Hyperinflation zu besiegen. Die Inflationsrate sank von 25.000 Prozent auf 10,7 Prozent im Jahre 1987. Schon von Anfang 1986 an erlebte Bolivien eine anhaltende Phase der Preisstabilität.“ Der Harvard-Professor Jeffrey Sachs, von dem diese Sätze stammen, hat an der finanziellen Stabilisierung Boliviens nicht unwesentlich mitgewirkt. Als Regierungsberater hatte er 1985 und 1986 die „Neue Ökonomische Politik“ mitentworfen, die den Forderungen der ausländischen Gläubiger und des IWF gerecht wurde und mit der gleichzeitig eine schwere Krise des Schuldnerlandes gemeistert werden sollte. Tatsächlich ist Bolivien heute ein Land mit relativ stabilen Preisen und einer stabilen Währung - eine Ausnahme auf dem lateinamerikanischen Subkontinent. Von den Marktwirtschaftsideologen wurde Bolivien rasch zum Modell erkoren, und die Weltbank honorierte die finanzielle Stabilität mit Kreditversprechen in Milliardenhöhe.

Jeffrey Sachs, einer der geistigen Väter des bolivianischen Modells, wurde mit dessen Erfolg berühmt, und seine Beraterdienste sind mittlerweile in vielen lateinamerikanischen Ländern begehrt. Die allseits gelobte Umwandlung des glücklosen bolivianischen Staatskapitalismus in eine „freie“ Marktwirtschaft weckte auch in osteuropäischen Staaten Interesse. Von der polnischen Regierung wurde Jeffrey Sachs letztes Jahr als Berater ins Land geholt. Gründe genug, sich auf die Reise zu begeben und die soziale Wirklichkeit Boliviens nach mehr als vier Jahren marktwirtschaftlicher „Genesung“ genauer in Augenschein zu nehmen.

Der Abschied vom Proletariat Mit der marktwirtschaftlichen Sanierung seit 1985 hat sich die bolivianische Gesellschaft von Grund auf verändert Aus einer traditionsreichen Arbeiterbewegung wurden entrechtete Produzenten, die rücksichtslos um ihr Überleben kämpfen

Gabriela Simon

Das Herz Boliviens findest du im Innern der Berge“, hatte mir eine Bolivianerin geraten. Seit Jahrhunderten teilt sich das bolivianische Andenhochland in zwei Welten: die eine, das ist die weite Gebirgslandschaft mit den kargen Böden und einer unerbittlich herabbrennenden Sonne; die andere liegt unter der Oberfläche, in den viele tausend Kilometer langen Schächten, die die Berge durchziehen und wo die mineralischen Reichtümer des Landes gewonnen werden. Oben sorgen diverse Gottheiten für Sonne, Regen und eine gute Ernte. Unten ist es finster und stickig wie in der Hölle, und die Menschen verehren den Teufel.

Fürs erste bleiben wir an der Oberfläche; wir lassen uns von der holprigen Piste durchschütteln und schlucken den Staub, der durch jede noch so kleine Öffnung in den Wagen eindringt. Stundenlang fahren wir durch die eisige Morgenkälte des Hochlands, ohne durch ein einziges Dorf zu kommen. Die Berge leuchten in der aufgehenden Sonne, im Rot der Lehmerde, in verschiedenen Braun-, Ocker- und Grautönen. „Dort drüben“, sagt einer meiner Mitreisenden, „dort haben die Spanier Thomas Katari gefangengenommen.“ In der letzten großen Aufstandsbewegung gegen die Spanier zwischen 1780 und 1782 waren die Minengebiete Potosis eines der Zentren der Rebellion. Hier, wo die Indianer zu Hunderttausenden an der Zwangsarbeit in den Bergwerken zugrunde gingen, organisierte Thomas Katari die Kämpfe gegen die Spanier; zur gleichen Zeit, als Tupac Amaru mit seinen Truppen die ehemalige Inka -Hauptstadt Cusco zurückeroberte. Beide wurden besiegt, die Aufstände niedergeschlagen.

In der dünnen Erdkruste wächst fast nur Gras. Mit viel Arbeit und intensiver Pflege kultivieren die Bauern Kartoffeln - fast das einzige landwirtschaftliche Produkt, das sich hier in 4.000 Meter Höhe anbauen läßt. Manchmal erscheint wie aus dem Nichts ein Bauer mit einigen Lamas. Auf dem Rücken tragen sie gebündelte Zweige, Brennmaterial, das über lange Strecken transportiert werden muß. Kaum vorstellbar, daß diese Region vor der Ankunft der spanischen Eroberer eine äußerst fruchtbare Gegend gewesen sein soll, mit üppiger Vegetation und mildem Klima. Von Wäldern und fruchtbaren Weiden berichteten die ersten Konquistadoren, die, getrieben von ihrer unstillbaren Gier nach Gold und Silber, durch das Hochland zogen. Auf der Suche nach den begehrten Edelmetallen brannten sie die Vegetation ganzer Berge einfach nieder. Ein großer Teil des Baumbestandes wurde in den Minen zum Abstützen der Stollen verbraucht. Der Rest wurde als Brennmaterial abgeschlagen - auch eine Innovation der Spanier.

Das Ende einer Ära

Die Zinnmine Ocuris, ein Bergarbeiterort im Norden von Potosi, liegt in einem Flußtal. Auf beiden Seiten des Flusses graben sich die Mineros mit Hacke und Schaufel in den Berg hinein. Von dem ursprünglichen Flußbett ist nichts mehr zu sehen, das Wasser wird von den Bergleuten genutzt, um das gewonnene Zinn zu konzentrieren. Hinter dem Bergwerk ist der Fluß eine rötlich-gelbe Brühe, und ein paar Kilometer weiter unten wird sie von den Bauern als Trinkwasser genutzt. In der Pause sitzen die Mineros gruppenweise zusammen, genießen ein wenig die Sonne und kauen ihre Kokablätter, seit ewigen Zeiten das tägliche Brot der bolivianischen Bergarbeiter. Sie haben jetzt die zweite Etappe der Ausplünderung hinter sich: die Ära des Zinns, des „Teufelsmetalls“, das seit Anfang dieses Jahrhunderts die Geschicke Boliviens bestimmt hat. Bis 1985 wurde in den Zinnminen die Hälfte der Exporterlöse des Landes erwirtschaftet, der Zinnbergbau war die Basis und das Zentrum der bolivianischen Ökonomie.

20 Jahre lang hatte COMSUR, eine der größten privaten Minengesellschaften des Landes, die Mine in Ocuri betrieben. In ihren besten Zeiten, so wird in Ocuri erzählt, hätte die Mine täglich 44.000 Dollar Gewinn gebracht, aber investiert wurden nichts. Auch das Dorf blieb so arm wie eh und je. Den Mineros und ihren Familien gehörten nicht einmal die elenden Hütten, in denen sie wohnten. Als der Zinnmarkt an der Londoner Metallbörse im Oktober 1985 zusammenbrach und der Weltmarktpreis drastisch fiel, wurden viele bolivianische Zinnbergwerke unrentabel. COMSUR schloß die Mine, baute die technischen Anlagen ab und ließ aus den Wohnungen der Mineros alles entfernen, was sich nur irgendwie verkaufen ließ: Türen, Fenster, sogar die Wellblechdächer.

Koka oder Kooperative?

„Wenigstens haben wir hier keinen mehr, der uns befiehlt.“ Die Mineros können ihrer neuen Lage durchaus positive Seiten abgewinnen, auch wenn sie keinen Hehl daraus machen, daß ihre materielle Situation ohne festen Lohn und ohne jegliche soziale Absicherung äußerst prekär ist. Nach der Schließung der Mine waren die meisten Familien auf der Suche nach Arbeit quer durchs Land gezogen; einige gingen zum Koka -Treten nach Cochabamba, andere versuchten sich im Schmuggel oder als Kleinhändler. Viele kamen jedoch 1987 wieder zurück und gründeten eine Kooperative, die die Mine in eigener Regie ausbeutet. Gearbeitet wird mit Hammer, Hacke und Schaufel.

Ponciano Quispe ist einer der älteren Mineros in Ocuri. Er hatte in einem anderen Bergwerk von COMSUR Arbeit gefunden, gab sie jedoch freiwillig wieder auf, um die Kooperative von Ocuri mitzugründen. „In den Betrieben gibt es heute für die Arbeiter keine Gerechtigkeit mehr“, begründet er seine Entscheidung, „die Unternehmer machen mit dir, was sie wollen.“ Früher, vor 1985, da sei das anders gewesen. Damals gab es noch eine starke Bergarbeitergewerkschaft. Auch in Ocuri waren praktisch alle Arbeiter organisiert. „Wenn wir in der Mine ein Problem hatten, sind wir zur Gewerkschaft gegangen, und dann wurde das geändert. Inzwischen“, so Ponciano Quispe, „taugen die Gewerkschaften zu nichts mehr, sie haben ihre Autorität verloren.“

Jetzt brauchen die Mineros in Ocuri keine Gewerkschaft mehr. Sie streiten sich nicht mehr mit dem Unternehmer, sondern miteinander. Handgreifliche Konflikte gehören in der Mine zum Alltag. Ihre Organisation, die Kooperative, besteht aus Gruppen und Einzelnen, die in finanzieller Eigenverantwortung arbeiten: wer eine ergiebige Zinnader findet, hat Glück. Wer Pech hat, verdient monatelang keinen einzigen Boliviano. Im Zweifelsfall gilt das Faustrecht.

Einsame Überlebenskämpfe

Das Thema Gewerkschaft taucht in allen Gesprächen auf, wenn es um die Veränderungen seit 1985 geht. Der Schock der Niederlage ist noch lange nicht verwunden. Die Gewerkschaft ist zum Mythos geworden. Bis 1985 hat die bolivianische Gewerkschaftszentrale COB eine zentrale Rolle in der Gesellschaft gespielt. Nach der Enteignung der Zinnoligarchie und der Nationalisierung des Bergbaus durch die Revolution 1952 war sie zur wichtigsten sozialen Kraft des Landes aufgestiegen - Gegenpol zu den putschfreudigen Militärs. Für viele verkörperte sie die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft. Manchen galt sie gar als „Seele der Gesellschaft“ - in einer fast zwei Jahrzehnte lang von Militärdiktaturen geknebelten Gesellschaft.

Im Büro der regionalen Gewerkschaftszentrale in Potosi sitzen heute resignierte alte Männer. „Diese Kooperativen ruinieren nicht nur die Gesundheit der Bergarbeiter“, schimpft Alberto Choque von der regionalen Leitung der COB, „auch die Minen werden zerstört, weil die Kooperativen sie völlig unsystematisch ausbeuten.“ Die Bezeichnung Kooperative ist ohnehin irreführend: in diesen Kooperativen dominieren Faustrecht und paternalistische Ausbeutungsformen. Es gibt keine rechtlichen Absicherungen für die Arbeiter und keinen sozialen Schutz. Das bei uns vielzitierte Schreckensbild des Manchester-Kapitalismus ist im Vergleich dazu die reinste Idylle.

In Potosi organisiert die COB nur noch die kleine Minderheit der festangestellten Bergleute, und auch für sie ist der Mindestlohn auf einen Tiefstand von 70 Bolivianos (circa 24 Dollar) monatlich gesunken. „Wir schaffen es nicht einmal mehr, einen Hungerstreik zu organisieren“, stellt Alberto Choque resigniert fest. „Denn hungern müssen wir ohnehin schon seit Jahren, zusammen mit unseren Kindern.“ Die radikale Entsolidarisierung unter den Mineros und der Verlust gemeinsamer Perspektiven hat die erfahrenen Klassenkämpfer der COB sprachlos gemacht.

Auf den ersten Blick scheint Potosi nicht besonders unter der Zinnkrise gelitten zu haben. Das Städtchen am Fuß des „Cerro Rico“, des „reichen Bergs“, aus dem schon die Spanier mehrere tausend Tonnen Silber von den indianischen Zwangsarbeitern herausholen ließen, ist ein lebhaftes Zentrum geblieben: mit Spielhöllen, Einkaufszentren, gepflegten Cafes, Vier-Sterne-Hotels. Offensichtlich ist hier jede Menge Geld im Umlauf. Woher das kommt? Darüber spricht man nicht so gerne: Die Kokain-Wirtschaft hat der Bergarbeiterstadt Potosi indirekt zu einem Aufschwung besonderer Art verholfen. Über die Hälfte der Bevölkerung lebt heute ganz oder teilweise vom Schmuggel, von halbdunklen Geschäften, gelegentlichen Dienstleistungen, Prostitution. Das Leben in der Stadt, so versucht einer der Alteingesessenen den sozialen Wandel zu erklären, gleiche dem Betrieb in einem Kasino: Überlebenskämpfe voller Mißtrauen, Einsamkeit, Rücksichtslosigkeit - und Todesangst.

Ein Schockprogramm

für die Gewerkschaften

Im August 1985 hatte die damalige konservative MNR-Regierung unter Victor Paz Estenssoro mit ihrem Berater Jeffrey Sachs ein wirtschaftliches Schockprogramm ausgearbeitet, das als „Dekret Nr. 21060“ in die Geschichte Boliviens einging. Neben den klassischen IWF-Rezepten (Kürzung der Staatsausgaben, Freigabe der Preise, Erhöhung der Energiepreise, Lohnstopp, Handelsliberalisierung, freier Wechselkurs) stand dabei die weitgehende Auflösung des staatlichen Sektors im Vordergrund, der seit der Revolution von 1952 eine zentrale Rolle in der bolivianischen Ökonomie gespielt hatte. Besonders das größte staatliche Unternehmen, die Bergbaugesellschaft COMIBOL, war davon betroffen: 16 der 24 COMIBOL-Minen wurden geschlossen oder an Kooperativen übergeben. Von den mehr als 30.000 Beschäftigten waren drei Jahre später noch 7.500 übriggeblieben.

„Es gab keine zwingenden ökonomischen Gründe für die Massenentlassungen“, meint Alberto Choque, und er spricht das aus, was die Mehrheit der bolivianischen Gewerkschafter denkt. Für sie war die „Neue Ökonomische Politik“ ein Schockprogramm für die Gewerkschaften. „Es geht dabei um die kapitalistische Umstrukturierung nach den Interessen des ausländischen Kapitals“, so Alberto Choque. „Der Widerstand sollte gebrochen werden.“ Tatsächlich waren die Massenentlassungen ein äußerst gewalttätiger Prozeß, und nicht umsonst wurden sie von der COB als „weißes Massaker“ bezeichnet.

Die Bergarbeitergewerkschaft FSTMB, der traditionell stärkste Teil der COB, wurde tödlich getroffen. Bereits im September 1985 wurde ein Generalstreik gegen das Dekret Nr. 21060 mit der Verhängung des Ausnahmezustandes beendet. Die letzte große Protestaktion der Mineros ein Jahr später, als Tausende mit ihren Familien über die Hochebene von Oruro nach La Paz marschierten, wurde durch den Einsatz von 2.000 schwerbewaffneten Soldaten und Panzern beendet. Wieder wurde der Ausnahmezustand verhängt.

Die Befürworter der neuen Wirtschaftspolitik verweisen darauf, daß COMIBOL schon seit Anfang der achtziger Jahre ein defizitäres Unternehmen war. Außerdem seien die Minen erschöpft gewesen. „In manchen COMIBOL-Minen wurde pure Erde gefördert, die praktisch kein Mineral mehr enthielt“, begründet Juan Antonio Morales, ein ökonomischer Berater der MNR-Regierung, die Massenentlassungen. Die Mineros hätten seit Jahren keine Werte mehr produziert.

Demnach hätte die „Neue Ökonomische Politik“ lediglich ökonomische Ruinen zum Einsturz gebracht. Zu diesen Ruinen gehörten offensichtlich relevante Teile der nationalen Industrie und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die das Sanierungsprogramm nicht überlebten: Seit 1985 wurden nicht nur die 23.000 Mineros von COMIBOL arbeitslos, sondern auch 30.000 Staatsangestellte, -zigtausend Beschäftigte aus der Privatwirtschaft und ungezählte Kleinbauern, die von der Importflut ruiniert wurden. Zwingende ökonomische Logik?

Die Ruinen von COMIBOL

Zwei der bedeutendsten Ruinen COMIBOLs liegen in Llallagua, einem traditionsreichen Bergarbeiterzentrum, 4.000 Meter hoch in den Bergen im Norden Potosis. Die Minen „Siglo XX“ (20. Jahrhundert) und „Catavi“ waren die größten staatlichen Zinnbergwerke. Vor den Streiks in diesen Minen zitterte jede Regierung in La Paz. Nun haben mehr als 8.000 Leute hier ihren Arbeitsplatz verloren. Dennoch ist Llallagua heute keine ausgestorbene Stadt. Im Gegenteil. Zwischen den einfachen, mit Wellblech gedeckten Häusern herrscht von früh bis spät reges Treiben.

„Heute leben hier mehr Menschen als je zuvor“, wird mir auf meine erstaunten Fragen hin erklärt. Nach den Massenentlassungen 1986 waren die meisten Minero-Famiien zunächst weggezogen. Llallagua verarmte: die Händler, Handwerker und Dienstleistungsbetriebe verloren ihren Markt. Die Bauern in der Region konnten ihre Produkte nicht mehr verkaufen. Viele verstrickten sich in Schulden, verloren ihr Land und strandeten, arbeitslos und verarmt, in Llallagua.

1987 gründete die konservative ADN, die Partei des Ex -Diktators Hugo Banzer, in einem Teil der Mine Siglo XX die erste Kooperative. Arbeitssuchende gab es zuhauf, und sie waren bereit, fast jede Bedingung zu akzeptieren, um Geld zu verdienen. Der ADN-Initiative folgten rasch weitere: die damalige gemäßigt linke Regierungspartei MNR gründete ebenfalls eine Kooperative, weitere, unabhängige, Kooperativen folgten. Insgesamt arbeiten heute in Siglo XX sieben Kooperativen mit insgesamt sieben- bis achttausend Bergleuten.

In den Zeiten von COMIBOL war Siglo XX ein Synonym für die kämpferische und selbstbewußte Tradition der bolivianischen Gewerkschaften; ein Zentrum des Widerstands gegen die Militärdiktaturen. Heute kann der Präsident der ADN -Kooperative jederzeit entlassen, wen er will. Als sich einige Arbeiter dieser Kooperative von der lokalen Radiostation über die Zustände in der Mine befragen ließen, wurden sie kurzerhand gefeuert.

Ungesicherte Schächte

Sieben Uhr morgens, der Arbeitstag beginnt, und vor den Mineneingängen sammeln sich die Bergleute. Am Eingang der ADN-Mine prangt das Konterfei des Generals Hugo Banzer, zusammen mit dem Emblem und einigen Sprüchen der ADN. Die Bergleute scheinen sich nichts daraus zu machen, zumindest zeigen sie es nicht. Gut gelaunt stehen sie in Gruppen herum, reißen Witze, essen noch eine Kleinigkeit, bevor sie für den Rest des Tages im Dunkel des Bergs verschwinden. Nicht in dieses Bild sorgloser Ausgelassenheit paßt, daß sie ständig versuchen, mich zu beruhigen, obwohl mir gar nicht nach Angst oder Aufregung zumute ist. „Ganz ruhig“, sagen sie, „es wird schon nichts passieren.“

Die Transportsysteme aus den Zeiten von COMIBOL sind längst nicht mehr in Betrieb (mit Ausnahme eines einzigen Aufzugs, der die zwölf Stockwerke des Bergwerks miteinander verbindet). Die Mineros laufen zu Fuß, die Schienen entlang, in den Berg hinein. Ihr Lämpchen haben sie am Helm, den Akku am Grütel befestigt. Allmählich verteilen sie sich in den mehrere hundert Kilometer langen Schächten, die den Berg durchziehen. Manche müssen stundenlang bis zu ihrem Arbeitsplatz laufen. Das Mineral, das sie dort mit dem Hammer aus dem Stein schlagen, schleppen sie in Leinensäcken auf dem Rücken denselben Weg wieder zurück.

Um das alte Transportsysem wieder in Betrieb zu nehmen, bräuchte die Kooperative Geld. Aber woher soll sie es nehmen? Da die Gruppen eigenverantwortlich arbeiten, verdienen sie sehr unterschiedlich. Für Gemeinschaftsausgaben gibt es in diesem System keine Ressourcen. Viele der Holzbalken, die die Schächte absichern, sind morsch, teilweise bereits abgebrochen und heruntergefallen; den neuen Schächten fehlt jegliche Sicherung, die Entwässerungsanlagen verfallen. Je weiter wir in den Berg hineinlaufen, desto riskanter wird es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Mineros kennen ihre Route, aber wer einen Fußbreit daneben tritt, kann knietief im Schlamm versinken. Einige Stollen stehen bereits völlig unter Wasser und sind nicht mehr begehbar. Man würde bis zu den Hüften im Wasser stehen.

Zwei tödliche Unfälle pro Tag

Auf der Suche nach dem Metall graben die Mineros schmale Kanäle, die oft zehn der zwanzig Meter in die Tiefe gehen und so eng sind, daß sich gerade eine Person halb kletternd, halb rutschend hindurchzwängen kann. Unten, wo gearbeitet wird, ist die Luft dick und sauerstoffarm, der Raum ist eng, oft kann man nicht einmal aufrecht stehen. Feste Arbeitszeiten gibt es nicht. Gruppen, die nach längerer Zeit endlich eine Zinnader gefunden haben, bleiben manchmal zwei Tage im Berg - mit nichts anderem als ihrem Koka-Bällchen zwischen den Zähnen.

„Wer hier nicht kräftig zupackt, muß gehen.“ Daniel ist einer der Mineros, die schon früher in der Mine gearbeitet haben. „Heute“, erklärt er, „sorgen die Gruppen schon selbst dafür, daß diszipliniert gearbeitet wird.“ Der Verdienst eines jeden hängt auch von der Arbeit der anderen Gruppenmitglieder ab. Alte, Schwache und Kranke werden gnadenlos ausgesondert und müssen sich alleine durchschlagen. „Früher wurde hierfür die Arbeiterklasse gekämpft“, resümiert Daniel, „heute kämpfen wir ums Überleben.“

Das Überleben war in den bolivianischen Bergwerken schon immer eine heikle Sache. Siglo XX galt bis 1985 aber immerhin als eines der sichersten Bergwerke im Land. Heute versucht die Menschenrechtskommission Llallaguas vergeblich, Genaueres über die Häufigkeit von Unfällen in Siglo XX herauszubekommen. Die Leitungen der Kooperativen informieren nicht darüber, und die Mineros schweigen aus Angst vor Repressalien. Die Universität von Llallagua schätzt auf der Basis von Umfragen bei Krankenstationen, daß in Siglo XX heute im Durchschnitt zwei Menschen pro Tag tödlich verunglücken. Wenn die Ausbeutung in dieser Form weitergeht, ist es mit der Mine in wenigen Jahren ganz vorbei. Fachleute in Llallagua befürchten, daß allmählich ganze Teile des Bergs unter dem Gewicht des Wassers absinken könnten. Dann wäre alles verloren.

Ausblicke in die Zukunft

Dennoch besteht Siglo XX auch heute nicht nur aus Elend, Tränen und Hoffnungslosigkeit. Es gibt Lichtblicke, wie zum Beispiel Teodoro Juanes, den Präsidenten der Kooperative „20. Oktober“, der unbeirrt nach Perspektiven sucht und dabei einen bewundernswerten Optimismus ausstrahlt. „Wir müssen jetzt daran arbeiten“, so Teodoro, „in den Kooperativen neue Formen der Solidarität zu entwickeln. Wir müssen zu einer richtigen Kooperative werden.“ Die Kooperative 20. Oktober hat begonnen, Gemeinschaftsprojekte zu entwickeln: Es gibt einen gemeinsamen Laden, der Gewinn abwirft. Damit soll jetzt Land gekauft werden, um langfristig nicht nur von der Zinnprodukton abhängig zu sein. „Wenn wir es schaffen, solidarische Formen zu entwickeln“, meint Teodoro, „dann könnten die Kooperativen zu einer ähnlich selbstbewußten Bewegung werden, wie früher die Gewerkschaft.“ Bis dahin ist allerdings noch ein weiter Weg.

Bleibt die Frage, wie es möglich ist, daß in Siglo XX heute 8.000 Menschen Arbeit finden, wenn COMIBOL die Mine bei knapp 5.000 Beschäftigten wegen der hohen Defizite schließen mußte. Sicher, auch die Gewerkschaft räumt heute selbstkritisch ein, daß COMIBOL zu einer Art Selbstbedienungsladen verkommen war und sie sich zu wenig um den Zustand des Unternehmens gekümmert habe. Erst 1985, angesichts der drohenden Massenentlassungen, entwickelte die Bergarbeitergewerkschaft ein Alternativkonzept, das die Umstellung auf moderne Ausbeutungsverfahren und eine Verwertung der gigantischen Abraumhalden vorsah. Die Regierung wollte davon jedoch nichts wissen. Sie hatte längst andere Pläne, die inzwischen wenige Meter von Siglo XX entfernt, in Catavi, Gestalt angenommen haben.

Hier wurde früher das in den Minen von Siglo XX und Catavi gewonnene Material zerkleinert, konzentriert und zu Zinn verarbeitet. Catavi wurde nicht an Kooperativen verpachtet. Die Anlage wurde 1986 geschlossen, und von den knapp 4.000 Beschäftigten blieben im Rahmen eines Sozialplans 380 übrig, die die Maschinen bewachen und notdürftig warten. Wer heute durch diesen Maschinenpark läuft, fühlt sich nicht nur um Jahre, sondern um Jahrzehnte zurückversetzt. Die gigantischen Eisenkonstruktionen, die hier seit 1986 vor sich hin rosten, stammen noch aus den dreißiger und vierziger Jahren, aus Zeiten also, in denen sich die drei Zinnbarone Patino, Aramayo und Hochschild den bolivianischen Bergbau untereinander aufteilten.

Teure Modernisierung

Die Zukunft Catavis steht eher unscheinbar am Rande dieses monströsen Maschinenparks: eine kleine, funkelnagelneue Pilotanlage von der spanischen Firma ERAL. Mit ihrer Hilfe ließe sich die Produktion hier wieder rentabel machen, erklärt der ERAL-Ingenieur, der über die Modernisierungspläne bereitwillig Auskunft gibt. Wenn der laufende Pilotversuch bis März oder April erfolgreich abgeschlossen wird, dann will COMIBOL die Anlage für acht Millionen Dollar kaufen. Eine umfassende Modernisierung von Catavi wäre für ungefähr 20 Millionen Dollar zu haben. Die gesamten alten Anlagen hätten, so der Mann von ERAL, ohnehin nur noch Schrottwert. Nach der Modernisierung würde Catavi mit dem aktuellen Personalbestand von 380 Leuten mehr produzieren als vor der Schließung mit 4.000. Und was die 20 Millionen Dollar betrifft: die spanische Regierung wäre bereit, einen entsprechenden Kredit zu geben - ganz selbstlos, versteht sich.

Ist das die Zukunft Boliviens? Juan zieht mich nach diesem Gespräch zur Seite. „Unsere Gießerei mußt du noch sehen!“ Dort hatte er viele Jahre lang gearbeitet. In der Gießerei waren für alle Bergwerke Boliviens Maschinenteile hergestellt worden. Heute liegt sie still. „Wir könnten hier im Prinzip fast jede Maschine nachbauen“, meint Juan, „wahrscheinlich auch diese neue Anlage von ERAL.“ Ein bißchen solidarische Hilfe aus den Industrieländern wäre natürlich nötig, dann könnten sie versuchen, Catavi mit ihren eigenen Ressourcen, ihren Fähigkeiten und ihrem Erfindungsgeist zu modernisieren - sparsam und arbeitsintensiv, und ohne alle alten Anlagen zu verschrotten.

Aber das wird ein Traum bleiben. Statt uneigennütziger Hilfe kommen millionenschwere Kredite, die neue Schulden bringen, und hochmoderne Maschinen, die Arbeitsplätze vernichten. Wenn die Bolivianer Glück haben, dann können sie mit den Rohstoffen, die sie mit den neuen Maschinen produzieren, in den nächsten 20 Jahren die neuen Schulden zurückzahlen. Wenn das nicht klappt, dann dürfen sie wieder mit dem IWF verhandeln, ein neues Schockprogramm ausarbeiten...

Demokratie im Ausnahmezustand

La Paz, 13. November. Drei Wochen dauert der Hungerstreik der Lehrergewerkschaft bereits an, dem sich mittlerweile mehr als 3.000 Lehrer und Lehrerinnen im ganzen Land angeschlossen haben. Einige befinden sich in Lebensgefahr. Dabei geht es „nur“ um einen jährlichen Lohnzuschlag von 300 Bolivianos (etwa 105 Dollar, jährlich!), den die neue Regierung von Präsident Jaime Paz Zamora den Lehrern gestrichen hat. Drei Wochen Hungerstreik haben an der harten Haltung der Regierung nichts geändert: die Staatskasse sei leer.

Heute haben die Elternorganisationen für eine Solidaritätskundgebung im Zentrum von La Paz mobilisiert. Über 50.000 sind gekommen, mehrheitlich Frauen aus den Armenvierteln, die für das Recht ihrer Kinder auf Ausbildung demonstrieren wollen. Die Erziehung gehört traditonell zu den vernachlässigten Bereichen der Sozialpolitik, die mit der „Neuen Ökonomischen Politik“ noch weiter ins Abseits gedrängt wurden. Der Hungerstreik der Lehrer wurde deshalb von Anfang an mit großer Sympathie aufgenommen. Kaum ein Tag verging ohne Protestaktionen und Straßenblockaden in allen größeren Städten des Landes. Von dem neuen Präsidenten Paz Zamora des sozialdemokratischen MIR hatte die Bevölkerung eine andere Politik erwartet. Immerhin versprach er im Wahlkampf eine „weichere“, sozial abgefederte Version der „Neuen Ökonomischen Politik“. Im August hatte sich der MIR mit der ADN zu einer „Regierung der nationalen Einheit“ zusammengetan.

Ohne ersichtlichen Grund wird der Demonstrationszug mit Tränengas aufgelöst. Am nächsten Tag bricht die Regierung die Verhandlungen mit den Lehrern ab, die COB beschließt, den Hungerstreik auf andere Bereiche auszuweiten. Am 15. November, bei Tagesanbruch, patrouillieren Militärs auf den Straßen von La Paz. Um ein Uhr morgens hatte der Sozialdemokrat Jaime Paz Zamora für 90 Tage den Ausnahmezustand verhängt. In den Straßen herrscht eine merkwürdige Stille. Die Menschen schweigen, sie sind fassungslos. Das ist bereits der dritte Ausnahmezustand seit Beginn der marktwirtschaftlichen „Gesundung“ Boliviens. Die finanzielle Stabilität dürfe nicht gefährdet werden, heißt es in einer Regierungserklärung, die in allen Zeitungen abgedruckt ist. Seit mehreren Wochen verhandelt die Regierung mit Vertretern der Weltbank über die Vergabe neuer Kredite. Soll den ausländischen Geldgebern Durchsetzungsvermögen demonstriert werden?

Um drei Uhr morgens waren Militär- und Polizeieinheiten in die Schulen und Gewerkschaftshäuser, ja sogar in die Kirchen eingedrungen, in denen sich die Gruppen der Hungerstreikenden eingerichtet hatten. Diejenigen, die bereits in einem kritischen Stadium waren, wurden in Kliniken gebracht, die anderen in Gefängnisse verfrachtet. Einige hundert Gewerkschafter wurden festgenommen und in Urwald-Regionen deportiert. Die Führung der COB tauchte zum wievielten Male in ihrer Geschichte? - in den Untergrund ab.

Der Taxifahrer, der mich an diesem Tag zum Busbahnhof fährt, schaut mich lange nachdenklich an, bevor er seinen Vorwurf taktvoll in eine Frage verpackt: Ob die Industrieländer lieber ein Land unterstützten, in dem die Grundrechte mit Füßen getreten werden, als eines mit Haushaltsdefizit und Inflation? Die Antwort kann ich mir sparen.