Schlaflose Nächte

■ Gegen Schlafstörungen gibt es auf dem Pharma-Markt kein Heilmittel. Vor allem Frauen leiden an dieser Krankheit, die durch Mehrfachbelastung, Streß und Konflikte entsteht. Um die Auslöser von unruhigen Nächten kümmern sich die Mediziner aber kaum.

Bibi Schrenk

Irgendwann an diesem Vormittag sagt Heide Schiller (Name von der Redaktion geändert), „es ist grausam, so zu leben. Mir kommt es vor wie ein ewiger Kreislauf: Wenn ich morgens aufstehe, wünsche ich mir, der Tag wäre schon wieder vorbei. Und wenn es dann endlich Nacht wird, habe ich Angst davor, noch stundenlang wach liegen zu müssen. Es ist ein Gefühl von ständiger Anspannung in mir, und mit diesem Gefühl wache ich dann wieder viel zu früh auf.“

Zu früh heißt im Fall von Heide Schiller etwa die Zeit zwischen 3.30 und 4 Uhr morgens. Dann hat sie, die zahlreichen Unterbrechungen durch Aufwachen abgerechnet, etwa drei Stunden geschlafen, „gelegentlich auch mal vier“. Sie nennt diesen Zustand eine „Besserung“. Vor einem halben Jahr noch sei es viel schlimmer gewesen. Und noch vor einigen Jahren habe sie fast vier Wochen lang überhaupt nicht mehr geschlafen, nachdem sie das Schlaf- und Beruhigungsmittel „Lexotanil“ - einem Marktführer unter den Benzodiazepilpräparaten - abgesetzt hatte.

„Die Jahre, die man so verlebt“, resümiert sie, „kann man wirklich streichen.“ Vierzehn Jahre sind es bei ihr mittlerweile geworden: eine Durchschnitts-„Karriere“ bei schwer „schlafgestörten“ Menschen, das sagen jedenfalls die Statistiken.

Welche Qual der sogenannte „gestörte“ Schlaf für die Betroffenen bedeutet, davon erfahren wir nur wenig. Schlaf, Schlafenkönnen ist eine Selbstverständlichkeit, so scheint es, eine Sache über die wenig gesprochen und noch weniger geschrieben wird. Träume und deren Deutung interessieren nicht erst seit Freuds tiefschürfender Seelenanalyse. Spätestens im Sommerloch tauchen sie im Blätterwald auf. Dem Schlaf hingegen widmen sich, neben den einschlägigen Fachzeitschriften, allenfalls die „Frauen„-Illustrierten der Regenbogenpresse, die immer wieder mit Patentrezepten gegen Schlaflosigkeit aufwarten.

Ein Heilmittel aber ist noch längst nicht gefunden - und auch kein Königsweg. Nicht für jene, die schlecht einschlafen, und auch nicht für die, denen das Durchschlafen Probleme bereitet.

Überhaupt ist bisher kaum ein Mittel entwickelt worden, das sicher und ohne gefährliche Nebenwirkungen gegen eine der bis heute - gezählten 77 Schlafstörungsarten wirken würde.

Es gibt verschiedene Arten von Schlafstörungen. Und zwar Störungen, die als Begleiterscheinung von organischen oder psychiatrischen Erkrankungen auftreten, und „funktionelle“ Schlafstörungen, die durch psychisch belastende Situationen und Ereignisse hervorgerufen werden.

Die funktionellen Schlafstörungen, von denen im folgenden die Rede sein soll, gelten in der Schlafforschung mittlerweile als „Volkskrankheit“. Neben Kopfschmerzen und Herzbeschwerden gehören sie zu den meistverbreiteten psychosomatischen Krankheiten.

Weltweit gemachte Studien haben gezeigt, daß zirka 20 Prozent der Bevölkerung unter schweren, teilweise chronischen Schlafstörungen leiden. 30 Prozent der Menschen, die in Industrieländern leben, schlafen schlecht.

Die meisten dieser Statistiken weisen einen signifikant hohen Frauenanteil auf. Warum dies so ist, ist weder geklärt noch jamals zum Gegenstand eines umfassenden und empirisch soliden Forschungsprojekts gemacht worden.

Wer nach Gründen für das Zustandekommen solcher Zahlen sucht und fragt, trifft fast überall auf seichte Spekulationen und Erklärungsmodelle aus der küchenpsychologischen Mottenkiste. Viel von „Flucht aus dem Alltag“ ist da zu lesen, von „Ängsten“ und vom „Verdrängen“.

Beate Paterok, Diplompsychologin und Leiterin der ambulanten Abteilung im „Laboratorium für experimentelle Schlafuntersuchung“ (kurz: Schlaflabor) an der Universität Münster, zweifelt an der Realitätsnähe solcher geschlechtsspezifischer Untersuchungsergebnisse: „Alle mir bekannten Erhebungen kommen zu dem Resultat, daß Frauen häufiger mit Schlafbeschwerden zu tun haben als Männer. Mir persönlich reichen diese Angaben jedoch nicht aus, da ich denke, daß in solchen Untersuchungen ein Mechanismus vernachlässigt wird, der ganz allgemein im Bereich der psychosomatischen Störungen eine Rolle spielt: Frauen reagieren viel schneller und eben auch viel häufiger auf Signale ihres Organismus.“ Dem weitverbreiteten Bild von der in aller Zurückgezogenheit, still und „heimlich“ leidenden Frau setzt Beate Paterok - „nach meinen Erfahrungen im Schlaflabor“ entgegen, sind es gerade die Frauen, die mit ihren Problemen nach außen gehen und Hilfe suchen“.

Zwar ist Beate Pateroks These bislang nicht ausreichend belegt. Klar ist jedoch, daß in direkten Befragungen (der gängigen Erhebungsmethode) die individuelle Bereitschaft, etwas „zuzugeben“, einen wesentlichen Faktor darstellt. Mit anderen Worten: Vom eigenen schlechten Schlaf zu sprechen, paßt wahrscheinlich ebensowenig in das von Rollenklischees geprägte Männerbild wie das Feststellen psychosomatischer Störungen bei Männern schlechthin.

Doch das ist nicht der einzig mögliche Einwand. Auch der vielgeübte statistische Zugriff auf Verschreibungsdaten ärztlicher Praxen oder auf Verkaufsmengen des pharmazeutischen Einzelhandels kann kaum als letzter Schlüssel zur Erkenntnis gelten. „In den meisten Mehrpersonenhaushalten ist es doch üblich“, gibt Beate Paterok zu bedenken, „sich gemeinsam aus einem zumeist gut gefüllten Medikamentenschrank zu bedienen. Es läßt sich also vermuten, daß Schlafmittel zwar einer Frau verschrieben wurden, anschließend aber allen dort lebenden Menschen zur Verfügung stehen und auch von diesen konsumiert werden.“

Mit dem Verschreiben von Schlaf- und Beruhigungsmitteln sind die meisten Ärzte und Ärztinnen, nach Erfahrung der Dauerpatientin Heide Schiller, „ohnehin schnell bei der Hand“. Daß Heide Schillers langjährige Medikamentenkarriere keine Ausnahme darstellt, belegt eindrucksvoll eine Befragung, die das Schlaflabor Münster bei den in der Umgebung niedergelassenen MedizinerInnen machte. Siebzig Prozent der Allgemeinärzte und -ärztinnen gaben an, „mehrmals täglich“ in ihrer Praxis mit Schlafstörungen „zu tun“ zu haben. 81 Prozent der behandelnden MedizinerInnen verschrieben dafür Tabletten - „zum Teil über Jahre hinweg“. Beate Paterok über die erschreckenden Ergebnisse, die solch leichtfertiges Verhalten bewirken kann: „Leute, die seit fünf bis zehn Jahren Rohypnol oder Valium schlucken, sind in unserem Diagnosezentrum in der Mehrzahl.“

Nur langsam setzt sich die Erkenntnis durch, daß Schlaftabletten fast immer „kontraindiziert“ sind; daß also dringend von ihrem Gebrauch abzuraten ist, da sie schon nach kurzer Zeit die Schlafqualität oder ganze Schlafphasen nachhaltig stören - kurz: den chronisch schlechten Schlaf erst herbeiführen.

Wer sich endlich, „oft aus ungeheurem Leidensdruck heraus“ entschließt, aus dem Teufelskreis von Schlaflosigkeit und Schlafmittelsucht auszubrechen, sagt Beate Paterok, „steht“, wie Heide Schiller, „plötzlich ganz allein da mit dem Problem“. In den meisten Fällen ist das nur schwer zu bewältigen: „Besonders nach dem Absetzen von barbiturathaltigen Mitteln, aber auch nach benzodiazepinhaltigen, reagieren viele Menschen mit vermehrten, sehr intensiven, wirren Träumen, oft auch mit Alpträumen“, schreiben die Autorinnen der „Informationsstelle Frauen-Alltag-Medikamente“ in einer Broschüre zum Thema psychisch wirksame Substanzen: „Nach jahrelangem Gebrauch...wurden im Entzug zum Teil monatelange Störungen des Schlafrhythmus und psychische Verstimmungen wie Angstzustände und Depressionen beobachtet“, sowie bei höheren Dosierungen das Auftreten gesteigerter Unruhe und schlimmer Verwirrungszustände. Weshalb es dennoch so oft zum allzu schnellen Griff nach dem Rezeptblock kommt, läßt sich nur zum Teil mit der „mangelnden Kenntnis“ (Paterok) der praktizierenden MedizinerInnen erklären (für die keinerlei gesetzlich verankerte Fortbildungspflicht existiert).

Ein weiterer wesentlicher Grund liegt in der Entwicklung der Tranquilizer vom Benzodiazepintyp verborgen. Als diese Mitte der fünfziger Jahre erstmals hergestellt wurden, „ging ein Aufatmen durch die Fachwelt. Man hatte eine Substanz entdeckt, die entspannend, beruhigend und schlaffördernd wirkte, ohne bei Überdosierung tödliche Folgen zu zeigen“ (Andrea Ernst/Ingrid Füller), das heißt, „die Hemmschwelle, die beim Verschreiben der 'schweren Geschütze‘ der Barbituratgruppe noch einigermaßen hoch war - nicht zuletzt wegen der latenten Suizidgefahr -, wurde durch die Entdeckung der neuen Tranquilizer deutlich gesenkt.

Frauen waren und sind von den Konsequenzen dieser Neuentwicklung besonders betroffen. Selbst wenn eine hohe Dunkelziffer des Medikamentenkonsums bei Männern anzunehmen ist, bleibt doch festzustellen, daß psychoaktive Medikamente nicht nur sehr viel häufiger an Frauen als an Männer abgegeben werden, sondern auch - und dies ist der wohl wichtigste Unterschied - „zur Behandlung einer ganz breiten Palette von Störungen“ verschrieben werden (Irmgard Vogt).

So breit die „Störungspalette“ ist, so dehnbar sind auch die Begriffe, die den meisten Diagnosen zugrunde liegen. Der Gummibegriff „vegetative Dystonie“, im Branchenjargon mit „Hausfrauensyndrom“ übersezt, trifft fast ausschließlich die weibliche Klientel der Ärzteschaft. Ganz gleich, ob Frauen über persönliche Probleme und schwere Konflikte klagen, die sie nicht mehr schlafen lassen, oder über körperliche Erschöpfung, die keineswegs zu gesundem, „tiefen“ Schlaf führt - fast immer gehen sie mit Diagnosen wie „vegetative Dystonie“ oder „neurotische Persönlichkeitsmerkmale“ nach Hause. Und mit mindestens einem Päckchen bunter Pillen „zur Beruhigung“. Das alte Hysterikerinnenklischee, die Vorstellung von der „psychisch labilen“ Frau, verstellt vielen Ärzten - und bedauerlicherweise auch noch immer vielen Ärztinnen - den Blick auf die realen Ursachen: die spezifischen, vielfältigen Belastungen, denen Frauen im Berufs- und Alltagsleben nach wie vor ausgesetzt sind.

„Was bei Männern normal erscheint, gilt bei Frauen als krankhaft“, konstatiert die Psychologin und Gesellschaftswissenschaftlerin Irmgard Vogt. Und, so ließe sich hinzufügen, was krankhaft ist, wird schnellstens behandelt. Beruhigungsmittel beruhigen alle, nicht nur die „kranken“ Frauen, und verhindern damit das Nachdenken über die eigentlichen Auslöser.

Das aber wäre bitter nötig. Denn: Funktionelle Schlafstörungen, die in der Literatur immer wieder unter der Bezeichnung „psychogene“ auftauchen, sind per definitionem solche, die durch „besonders belastende Situtionen, Konflikte und Streß“ entstehen, sich darüber hinaus aber durch eine „hohe Eigendynamik“ auszeichnen. Beate Paterok: „Der Schlaf der Betroffenen bleibt selbst dann noch für lange Zeit gestört, wenn die auslösende Problematik bewältigt werden konnte. Das Vertrauen in den eigenen guten Schlaf ist zerstört, die Schlafqualität durch oft langjährige Medikamentierung schwer beeinträchtigt. Das heißt, die Schlafstörung hat sich zu diesem Zeitpunkt längst verselbständigt.“

Dann erst nach dem eigentlichen Grund, den Lebensbedingungen der nun tatsächlich kranken Frauen zu fragen, ist, das jedenfalls meint die Schlafpatientin Heide Schiller, „fast schon ein bißchen spät“.

Bibi Schrenk