Erleichterung über Genscher-Linie

■ International wurde der Kompromiß zur Oder-Neiße-Grenze begrüßt / „Kohl hat politischen Schaden angerichtet“ / Andreotti will Rolle von KSZE und Nato im deutschen Prozeß stärken

Warschau/Paris/Washington (afp/ap/dpa) - Ein deutliches Aufatmen, wenn auch keine Entwarnung war gestern in den Nachbarländern und bei den Verbündeten der Bundesrepublik Deutschland vernehmbar, nachdem sich die Genscher-Linie in der Bonner Koalition durchgesetzt hatte. Der Kompromiß zur Oder-Neiße-Grenze, auf den sich CDU/CSU und FDP nach heftigen Querelen geeinigt hatten, wurde allgemein begrüßt; polnische Medien bedauerten allerdings, daß der Vorschlag von Premierminister Tadeus Mazowiecki abgelehnt wurde, wonach die beiden deutschen Staaten schon vor ihrer Vereinigung einen Friedensvertrag mit Polen abschließen sollten, der später von einem gesamtdeutschen Parlament ratifiziert würde. Bemängelt wurde in Polen auch, daß Kohl immer noch nicht grundsätzlich in der Frage eines formellen Reparationsverzichtes Warschaus und in der Frage der deutschen Minderheit lockergelassen hat. Weltweit wurde Kohls Mangel an Stil und Einfühlungsvermögen kritisiert, französische Medien stellten fest, das Verhalten des Bundeskanzlers habe dauerhaften politischen Schaden angerichtet.

In Frankreich wurde Kohls spätes Eingehen auf den Kompromiß als eine „Kapitulation“ vor wachsendem politischen Druck, aber auch als Anerkennung der Polen-Grenze gewertet. Die 'Liberation‘ warf Kohl vor, mit seinen „Zweideutigkeiten“ „deutschfeindliche Verdächtigungen“ wiederbelebt und die Position Bonns bei den Deutschland-Verhandlungen nach der Formel „Zwei plus Vier“ geschwächt zu haben. Jetzt gelte Genschers Wort international als größere Garantie als das des Kanzlers.

Bei einem Besuch in Washington äußerte der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti gestern seine Besorgnis über einen Ausschluß der Nato beim Prozeß der deutschen Vereinigung. Der Regierungschef sagte nach einem Gespräch mit US-Präsident George Bush, etablierte Organisationen wie die Nato sollten nicht von einem „Direktorat“ abgelöst werden. Er bezog sich damit auf die Formel „Zwei-plus-Vier“, nach der die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges sowie die Bundesrepublik und die DDR über die deutsche Vereinigung beraten sollen. Andreotti trat für eine Sondersitzung der 16 Nato-Staaten noch vor dem jährlichen Gipfeltreffen im Mai ein.

Der italienische Ministerpräsident sprach sich für eine Stärkung der Helsinki-Schlußakte, die unter anderem die Unverletzbarkeit der Grenzen in Europa garantiert, in ein „System des umfassenden Dialoges“ unter Einbeziehung der USA und Kanadas aus. Gemeinsam mit der Nato sei dies der Rahmen, um Fragen in Angriff zu nehmen, die mit neuen Demokratien im Osten, der deutschen Vereinigung und der neuen Beziehung zur Sowjetunion zusammenhingen.