Die Wendehälse der Revolution

Die seltsamen Wandlungen des Demokratischen Aufbruchs von der sozialistischen Reformpartei zur anti-sozialistischen Kampfgruppe / Grund der Wende: Nachdem die SPD (West) die SPD (Ost) zum exklusiven Partner kürte, blieb für den DA nur der Platz an der Seite der Union  ■  Von Walter Süß

Berlin (taz) - Wer im Zentrum der Ostberliner Opposition, dem „Haus der Demokratie“, vom zweiten in den dritten Stock hinaufgeht, erlebt einen kulturellen Bruch. Während im zweiten Stock - bei Organisationen wie der Bürgerrechtsbewegung „Demokratie jetzt“ - leger gekleidete Menschen meist jüngeren Alters in einer etwas hektischen, zugleich aber offenen Atmosphäre auf den Besucher zugehen, wandelt sich das Bild im Stock darüber beträchtlich. Man hat den Eindruck, in die betriebswirtschaftliche Fakultät einer westdeutschen Kleinstadt gekommen zu sein. Die Männer, die dort geschäftig umhereilen, sind meist erst Anfang Zwanzig, doch alle angetan mit Schlips und Anzug, viele im Verhalten von jener flachen Arroganz, hinter der sich starke Unsicherheit nur schlecht verbirgt. Dazwischen dann - neben den Sekretärinnen - einige ältere Herren, die meist nur einen Satz zu sagen brauchen, damit man den Westimport erkennt. Der Besucher ist beim „Demokratischen Aufbruch sozial & ökologisch“ (DA) gelandet.

Die Organisationen im zweiten und im dritten Stock verbindet mehr, als der Augenschein vermuten ließe. Denn ähnlich Demokratie jetzt ist auch der DA aus einer Basisinitiative hervorgegangen, die im Sommer 1989 von politisch engagierten Geistlichen gestartet wurde. Einige der Gründer des DA hatten in der Bürgerrechtsbewegung bekannte Namen: Edelbert Richter, Erhart Neubert, Rainer Eppelmann, Friedrich Schorlemmer und der Anwalt Wolfgang Schnur. Diesen Kreis einte die Sorge über die ständig wachsende Ausreisewelle, die Einsicht, daß sich die DDR in einer tiefen Krise befindet, und die Überzeugung, daß nur eine grundlegende Demokratisierung des Systems Abhilfe verspreche. Diese Grundposition wurde damals von vielen geteilt, und Organisationen, die solche Einsichten in praktische Politik umzusetzen beabsichtigten, schossen wie die Pilze aus dem Boden.

Reformsozialistischer Aufbruch

Den Unterschied zu anderen Initiativen versuchte Edelbert Richter, der die Gründung der Organisation Mitte September bei einem Besuch in Bonn bekanntgab, in einem Interview zu verdeutlichen. Während etwa das Neue Forum in seinem Gründungsaufruf die Verwendung des Wortes „Sozialismus“ vermieden hatte, sei das beim DA anders: „Nicht nur das Wort sozialistisch, sondern auch bestimmte gesellschaftliche Prinzipien des Sozialismus haben für uns nach wie vor einen guten Klang.“ In der Vorläufigen Grundsatzerklärung, die am 29.10. bei der offiziellen, landesweiten Konstitution der Organisation verabschiedet wurde, wird denn auch postuliert: „Die kritische Haltung des DA zum real-existierenden Sozialismus bedeutet keine Absage an die Vision einer sozialistischen Gesellschaftsordnung.“ Ein weiterer Unterschied zu anderen Organisationen bestand zu diesem Zeitpunkt - Ende Oktober - darin, daß die DA-Führung nach heftigen inneren Auseinandersetzungen dazu kam, die eigene Organisation als „Partei“ zu verstehen (kurz zuvor hatten die Sozialdemokraten in der DDR eine ähnliche Weichenstellung beschlossen).

Von der stürmischen Dynamik der Entwicklung in den folgenden Wochen wurde der DA ebenso wie alle anderen Parteien überrascht. Seine Führungsmitglieder nutzten die Reisemöglichkeiten, die sich durch Öffnung der Mauer am 9.November ergaben, um politische Kontakte in der Bundesrepublik zu pflegen. Besondere Präferenzen waren dabei anfänglich kaum zu erkennen. Wolfgang Schnur und Rainer Eppelmann debattierten vorzugsweise mit Freien Demokraten und Unionspolitikern (zu Norbert Blüm hatte letzterer schon seit längerem eine freundschaftliche Bindung), ohne sich jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits politisch festzulegen. So erklärte Schnur auf der Bundespressekonferenz, seine Organisation halte „an einer Vision des Sozialismus in der DDR“ fest. Edelbert Richter postulierte - als Gast der SPD -Bundestagsfraktion in Bonn -, der Demokratische Aufbruch stehe in seiner Programmatik der Sozialdemokratie „sehr nahe“.

In einer sehr wesentlichen Frage zeichnete sich allerdings bereits damals - vor dem Parteitag - ein Positionswechsel ab: in der Frage der deutschen Einheit. In der Vorläufigen Grundsatzerklärung stand noch zu lesen: „Wir gehen von der deutschen Zweistaatlichkeit aus.“ Gut einen Monat später veröffentlichte die Programmkommission des DA unter Federführung von Erhart Neubert - ohne Rücksprache mit dem DA-Vorstand - eine „Erklärung“, in der „die Einberufung einer DEUTSCHEN NATIONALVERSAMMLUNG“ vorgeschlagen wurde. Zur Begründung wurde das tiefsinnige Argument bemüht, daß „die Zweistaatlichkeit historisch bedingt (sei) und deshalb nicht von Dauer sein“ könne. Zwischenzeitlich war - nach der Öffnung der Mauer - das politische Klima in der DDR umgeschlagen. Auf Demonstrationen wurde der Ruf „Deutschland einig Vaterland!“ immer lauter. Den Kurswechsel des DA begründete Richter denn auch vor den Parteitagsdelegierten mit dem Argument: „Wir müssen das nationale Thema für uns fruchtbar machen und so der extremen Rechten das Wasser abgraben.“

Flügelkämpfe

Diese Position fand keineswegs ungeteilte Zustimmung. Der Gründungsparteitag am 16./17.Dezember 1989 in Leipzig wurde vielmehr zum Schauplatz heftiger, auch persönlich verletzender Auseinandersetzungen. Die Anhänger der ursprünglichen ökologischen, demokratisch-sozialistischen Orientierung um Schorlemmer gerieten mit Teilen der neugewonnenen Parteibasis vor allem aus dem Süden der DDR heftig aneinander. Dieser Flügel erhielt Unterstützung durch die angereiste Prominenz der West-CDU. Norbert Blüm bekannte: „Ich will mit euch wiedervereinigt werden!“ - ein Anliegen, das er während des Parteitages bei nächtlichen Mauscheleien mit Schnur u.a. in einem Leipziger Luxushotel vorantrieb.

Den Resonanzboden für solche Manöver bildete die neue Basis der Partei, die bis Anfang Dezember auf etwa zehntausend Mitglieder angewachsen war. Inzwischen waren viele, die sich zum ersten Mal politisch engagierten, zum DA gestoßen. Gerade diese zweite Generation von Parteimitgliedern forderte eine eindeutige Absage an jede Spielart des Sozialismus und ein klares Bekenntnis zu Marktwirtschaft und Wiedervereinigung. Der Parteitag endete - so schien es - mit Kompromissen: Auf das Reizwort „Sozialismus“ wurde im Programm verzichtet, doch viele inhaltliche Vorstellungen des linken Flügels wurden aufgenommen: die Betonung ökologischer Probleme, die Forderung nach „regulierenden Mechanismen“ in der Wirtschaft und „Hilfe für Menschen und Völker, die durch Herrschaft von Parteien oder des Profits um ein erfülltes Leben gebracht wurden und werden“ u.a.m. Personalpolitisch wurden die vier wichtigsten Positionen paritätisch mit Vertretern der beiden auf dem Parteitag hervorgetretenen Richtungen besetzt: Zum Vorsitzenden wurde mit knapper Mehrheit Wolfgang Schnur, zu einem seiner Stellvertreter Erhart Neubert gewählt, beide Vertreter eines Kurswechsels in Richtung der Vorstellungen der zweiten Generation von Parteimitgliedern. Aus dem Flügel um Schorlemmer kamen die zweite Stellvertretende Vorsitzende, die Ärztin Sonja Schröter, und die neue Pressesprecherin, Christiane Ziller.

Der Konflikt um den künftigen Platz des DA in der Parteienlandschaft der DDR war damit nicht ausgestanden. Der Vorsitzende Schnur erklärte im Anschluß an den Parteitag, „er verstehe sich als Vertreter einer Spannbreite, die sozialdemokratisch, sozialistisch, christlich und sozialökologisch denke und handle.“ Tatsächlich waren die Gegensätze in der Partei gerade durch den Parteitag unüberbrückbar geworden. Die linke Fraktion startete Anfang Januar noch einen vergeblichen Versuch, den DA der SPD anzunähern und verließ dann wenig später wegen der „einseitigen Ausrichtung auf die CDU/CSU“ die Partei. An dem von ihnen monierten Tatbestand hatten auch mit dem Kurswechsel sympathisierende Beobachter keine Zweifel. So stand Ende Januar in der 'Welt‘ zu lesen: „Während Schnur für die eigene Entwicklung zur 'bürgerlichen Mitte‘ die seit Dezember eingetretene 'Vereinnahmung der mitteldeutschen Sozialdemokraten durch die Bundes-SPD‘ verantwortlich macht, setzt Eppelmann noch darauf, daß 'die SPD diese Festlegung wieder ein Stück öffnet‘.“ Prämisse solcher Überlegungen war, daß die Konturen der Parteienlandschaft in der Bundesrepublik sich bald auch in der DDR wiederfinden würden. Die Partnerpartei der bundesdeutschen SPD hatte sich - zum Leidwesen mancher DA-Führungsmitglieder - bereits fest etabliert, und auch die Liberalen diesseits und jenseits der Grenze hatten sich schon gefunden. Übrig blieb der beträchtliche Platz, den in einem solchen Modell die Unionsparteien einzunehmen haben.

Wende zur Union

Daß der DA diesen Platz beansprucht, war ab Mitte Januar klar. Er betrachtete sich nunmehr - so die neue Pressesprecherin Angela Merkel - als „natürlichen Verbündeten“ der CDU. Allerdings beanspruchen auch die DDR -CDU - und vor allem im Süden - die DSU diesen Platz. Mit ihnen in einem Wahlbündnis zusammenzugehen, lehnte etwa Rainer Eppelmann noch Anfang Februar ab. Er erklärte, wegen der schuldhaften Verstrickung der Ost-CDU in die DDR -Geschichte und der „unverantwortlichen Weise“, in der die DSU auf das Tempo der Wiedervereinigung drücke, sei eine solche Koalition nicht möglich. In bezug auf die Ost-CDU hatte eine Woche zuvor auch Wolfgang Schnur ähnliche Einwände geäußert.

Wenig später wurden um einer „Allianz für Deutschland“ willen solche Bedenken zurückgestellt. Am 5. Februar wurde, vermittelt durch Helmut Kohl, in Berlin-West ein Bündnis aus Ost-CDU, DA und DSU gebildet. Zu den tragenden Motiven dieser „Allianz“ erklärte einer der Beteiligten, der Geschäftsführer der DSU, P.-M. Diestel, später auf einer CSU -Veranstaltung, es sei notwendig gewesen, „um Bundeskanzler Kohl eine Reverenz zu erweisen“. Doch - fügte er zum moralischen Gehalt dieses Bündnisses hinzu - die „dreckige Jacke der CDU-Ost“ wolle sich die DSU nicht anziehen. Der DA -Vorstand verabschiedete am Tag nach der Allianz-Bildung in Halle - in Anwesenheit von Kanzleramtsminister Seiters und Norbert Blüm - eine Erklärung, in der es zu der Aufgabenbestimmung des Bündnisses heißt: „Für die Allianz der Mitte gilt als gemeinsames Ziel: Nie wieder Sozialismus in Deutschland.“ Der DA war angetreten als eine Organisation, die „den sozialistischen Idealen und Grundwerten verpflichtet“ ist. Ein gutes Vierteljahr später war daraus eine Partei geworden, die sich dem Bürger in ihrem Wahlprogramm als „Garant gegen... Erneute sozialistische Experimente“ empfiehlt.

Es liegt nahe, daß eine Partei, die mit ihrer eigenen, kurzen Vergangenheit derart rüde umspringt, auch gegenüber dem politischen Gegner nicht zimperlich ist, selbst dann wenn es sich um frühere Bündnispartner handelt. Noch Anfang Januar 1990 hatte sich der DA für ein Wahlbündnis mit den Bürgerbewegungen und der SPD ausgesprochen. Einen Monat später - Kohl hatte die „Allianz“ zusammengenagelt erklärte DA-Schatzmeister Köllner die SPD für „nicht bündnisfähig“. Jetzt macht der DA mit Plakaten Wahlkampf, auf den zu lesen steht „STOP PDSPDSEDSPDPDS“ und verteilt Werbematerial mit der Aufschrift: „Für NAZIS, STASIS und SOZIS: FAHRKARTE ohne Rückfahrt nach Wüste Sahara“.

Hauptgegner ist die SPD, aber auch gegenüber den Bürgerbewegungen wird mit der Behauptung agitiert, „daß manche Oppositionsgruppen dabei sind, mit der SED... zu kollaborieren“ (Schnur). Es gehört zu diesem politischen Stil, daß - auch auf Nachfrage - weder Fakten noch Namen genannt werden.

Dubiose Mitgliederzahlen

Von den anfangs genannten prominenten Gründungsmitgliedern des Demokratischen Aufbruchs sind Edelbert Richter und Friedrich Schorlemmer inzwischen ausgetreten, Erhart Neubert ist Ende Januar „aus gesundheitlichen Gründen“ von seinem Posten als Stellvertretender Vorsitzender zurückgetreten. Von der engeren Führungsmannschaft, die erst im Dezember gewählt worden war - dem Vorsitzenden des DA, seinen beiden StellvertreterInnen und der Pressesprecherin -, ist allein Wolfgang Schnur der Partei erhalten geblieben. Wie es an der Parteibasis aussieht, ist schwer abzuschätzen. Gewiß ist, daß nicht nur einzelne bekannte Protagonisten aus der Gründerzeit im Zuge des Revirements im Januar die Partei verlassen haben, sondern auch viele „einfache“ Mitglieder aus Leipzig, Gera, Erfurt, Eisenach und anderen Orten. Doch in der Selbstdarstellung des DA sieht das ganz anders aus. Erklärte Schnur noch am 19.Januar, seine Partei habe fünfzehntausend Mitglieder, so behauptete Köllner Anfang Februar, es seien fünfzig- bis sechzigtausend. Wie es in einer Phase schwerer Identitätsstörung der Partei zu einem solch phantastischen Zulauf - binnen zwei Wochen ein „Wachstum“ auf das Vierfache - gekommen sein soll, verriet er nicht.

Noch imposanter als der Wandel in der Mitgliederstatistik sind die programmatischen Bocksprünge des DA. Betritt der informationshungrige Bürger die Pressestelle des DA, so bekommt er noch immer das Programm ausgehändigt, das der Leipziger Parteitag Mitte Dezember 1989 verabschiedet hatte. Was ihm nicht gesagt wird, ist, daß dieses Dokument mit der tatsächlichen Politik der Parteiführung nichts mehr zu tun hat. So wird im Programm die „Überwindung der Spaltung“ gebunden an „Entmilitarisierung“ und „Blockfreiheit“ angeführt. In einem vom gleichen Parteitag verabschiedeten und damit noch immer „gültigen“ - „Sofortprogramm“ wird die Einberufung einer „gemeinsamen deutschen Nationalversammlung“, die eine neue Verfassung erarbeiten soll, als Voraussetzung für den Vereinigungsprozeß gefordert. Das hinderte den Parteivorsitzenden Schnur jedoch nicht daran, auf einer Pressekonferenz am 15. Februar eine völlig andere Position zu vertreten. Er forderte „die sofortige Konstituierung der Länder“ und Wahlen zu den Landtagen am 6.Mai. Wohl um seine konservativen Rivalen zu übertrumpfen, ließ er sich dann noch einen besonderen Gag einfallen: „Wir werden in jedem Länderparlament den Antrag einbringen, unter Berufung auf Artikel 23 Grundgesetz der Bundesrepublik beizutreten.“ Die Drohung, daß „die Länder weglaufen“, gilt wohlgemerkt einer künftigen, demokratisch gewählten - vielleicht sozialdemokratisch geführten - DDR -Regierung.

Im DA-Programm war gefordert worden, die Überwindung der Spaltung in den Kontext „einvernehmlicher Festlegungen mit den europäischen Nachbarn“ einzubinden. In zynischer Verkehrung dieser Maxime hat der Vorsitzende Schnur kürzlich auf einer Wahlkampfveranstaltung des DA im Berliner Lustgarten erklärt, er hoffe, „daß Berlin bald Hauptstadt für ein einiges Vaterland und für ganz Europa“ werde. Mit solchen Parolen, die den zunehmend skeptischen europäischen Nachbarstaaten geradezu ins Gesicht schlagen, versucht Schnur den DA zum konservativen Platzhirschen zu machen.

Die Entwicklung des DA ist insgesamt aus drei Grundfaktoren zu erklären: populistischem Eingehen auf die Wiedervereinigungsträume einer frustrierten DDR-Bevölkerung, den Machterwerbstaktiken einer kleinen Führungsgruppe, die allein auf dem konservativen Teil des Parteienspektrums noch Marktchancen sah, und tatkräftiger Hilfe aus dem Konrad -Adenauer-Haus und dem Bundeskanzleramt. Mit den Intentionen, die mit der Gründung des Demokratischen Aufbruchs verbunden war, hat diese Organisation nur mehr den Namen gemein. Es handelt sich um einen Fall von politischem Etikettenschwindel.