Die 23 „Leipziger Montage“

■ Erst waren die Leipziger Großdemonstrationen nach Ost-Berlin, später dann nach Bonn ausgerichtet

23 Montage in Leipzig - die Geschichte einer Massenbewegung, auf eine einzigartige Weise fixiert in ein exakt definiertes Kontinuum von Zeitausschnitten. Die Leipziger Montage sind nicht nur jetzt schon zu einer historischen Quelle geworden. Sie verstanden sich immer auch als eine Art politischer Selbstdokumentation der Massen. Die Regierenden hüben und drüben studierten sie. Im Oktober, November sagten die Montage der SED, daß ihre Manöver der Herrschaftserhaltung zu spät kamen - von der Krenz-Nominierung über das Reisegesetz bis zur Maueröffnung.

23 Montage in Leipzig. Die Verheißung des revolutionären Aufbruchs; die radikale Ironie des Wir-sind-das-Volk, die den Staat des Volkseigentums und der Volkspolizei zersetzt hat; und dann, am Ende, der schwarz-rot-goldene Fahnenhintergrund für den Anschluß an die BRD. Von der „Heldenstadt Leipzig“ zur „Wiedervereinigungsstadt Leipzig“? Jetzt schon verhält sich die Linke, als ob die Montage Synonym für ihre Niederlage, für den Untergang der Opposition in der Einheitspanik sind.

Ein allzu einfaches Bild. Die Abfolge der Montage täuscht Identität vor. Die Montagsläufer des Februar sind nicht mehr die Massen des Oktobers: Die 70.000 vom 9. Oktober gingen auf die Straße, obwohl sie wußten oder ahnten, daß es einen Schießbefehl gab. Die späteren Schwarz-rot-gold-Schwenker können diesen Ruhm nicht beflecken. Aber: Was am 25.September begann, war nicht eine Bewegung der Opposition, sondern eine Bewegung für die Opposition. Es war der kollektive Bruch mit der Angst, der aufrechte Gang mit dem vagen Ziel, das „Neues Forum“ hieß. Unter dem Druck der Massen zerbrach im Voraus der SED-Staat. Es blieb die Angst vor der anonymen Macht, gegen die kein anderes Mittel schließlich zu helfen schien als der Ruf nach Wiedervereinigung. Aber noch im November war die Kritik der Massen am DDR-Staat präzis, die Sprache der Parolen voller Phantasie. Erst gegen Ende des Jahres 1989, als die Montagsläufe Fernsehereignis geworden waren, richteten sich die Massen nicht mehr nach Ost-Berlin, sondern nach Bonn aus.

Begann damit der Niedergang der DDR-Opposition? Nein, die Niederlage steckte schon in den Anfängen. Als Ende Oktober fast 500.000 Menschen die Leipziger Innenstadt besetzt hatten, hetzten die Sprecher des Neuen Forums noch mit Megaphonen in der Plastiktüte durch die Leute, nur um eine „Sprechererklärung“ vorzulesen. Sie hätten mit größerem Erfolg die Massen zum Sturm auf das Winterpalais führen können. Während also die Massen das Schicksal der Stadt in der Hand hatten, steckte die Opposition noch in den halbillegalen Nischen. So blieben die Montage von Leipzig ohne Führung. Opposition und Massen waren früh getrennt und verstanden sich bald nicht mehr.

Als im November das lähmende Bild des totalen Desasters sich immer mehr verdichtete, waren die Massen ohnehin nicht mehr von einer DDR-Reform zu überzeugen. Mit dem Einsetzen des Wahlkampfes, Anfang 1990, gerieten die Montage endgültig unter dessen Diktat. Die Opposition selbst hat es nie verstanden, ihre Politik unter die Massen zu bringen. Vielleicht auch deswegen, weil sie bis zur Ermüdung beschäftigt war, die Stadt zu organisieren, die zerfallenden Machtstrukturen von Leipzig zu übernehmen und die Stasi aufzulösen. Ihr größter und unbestrittener Erfolg: Daß die 23 Montage fast ohne Gewalt stattfanden. Sie haben das Objekt der Aggression, das Stasi-Gebäude, die „Runde Ecke“ geschützt und vorweg erobert. Ein Erfolg, für den sich - so scheint es - niemand bedanken wird. Auch das gehört zu der Geschichte der Montage.

Klaus Hartung