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Tschernobyl: „Junge Männer bewegen sich wie Greise“

Der sowjetische Physiker und Drehbuchautor Wladimir Schowkoschitnyi zu den allmählich erkennbaren Spätfolgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl  ■ I N T E R V I E W

In der vergangenen Woche ist in der Bundesrepublik der sowjetische Film „Die Schwelle“ angelaufen. Er zeichnet den Unfall von Tschernobyl nach, aus der Sicht der Betroffenen im Jahr 2 nach dem großen Knall. Trotz Glasnost in der Sowjetunion lag der Streifen fast eineinhalb Jahre lang (seit Herbst 1988) auf Eis, ehe er öffentlich gezeigt werden durfte. Wladimir Schowkoschnityi (33), von Beruf Physiker und Geologe, leitete von Juni 1986 bis September 1987 eine Aufräumgruppe am Ort der Katastrophe. Er ist einer der Drehbuchautoren und Mitwirkenden in dem dokumentarischen Film.

taz: Sie haben Ihren Film 1988, zwei Jahre nach der Katastrophe in Tschernobyl gedreht. Warum so spät, warum erst zu diesem Zeitpunkt?

Wladimir Schowkoschitnyi: Es gibt ein Gleichnis, das sagt: Das Gesicht kann das eigene Gesicht nicht sehen. Das geht nur mit einem gewissen Abstand. Es gab vorher keine Gelegenheit für ein Dokument, das nicht nur Fakten wiedergibt, sondern zeigt, was wirklich passiert ist, wie die Menschen diesen Einschnitt erlebt und empfunden haben. Und zwar die Menschen, die im Epizentrum des Unglücks waren.

Gerade in diesen Tagen hat uns eine Meldung erreicht, wonach weitere 118.000 Menschen aus Belorußland evakuiert werden müssen. In einer solchen Situation läßt sich das Ausmaß der radioaktiven Verwüstung eigentlich nicht mehr verheimlichen.

Man hat von Anfang an gewußt, daß so etwas nicht zu verheimlichen ist. Aber es wird wie immer ablaufen. Es wird eine Evakuierung geben, und wieder wird niemand dafür zur Verantwortung gezogen, daß das viel zu spät passiert.

In der „Schwelle“ kommt eine Ärztin zu Wort, die behauptet, sie habe Tausende Kinder untersucht. Nicht bei einem einzigen sei eine Veränderung des Blutbildes nachzuweisen. Die Kinder seien gesund.

Ich erzähle Ihnen etwas über meine eigenen drei Kinder. Am 3.Mai 1986 (eine Woche nach dem Unfall, Red.) hat man ihnen Blut abgenommen. Es wurden halbsoviel Thrombozyten (s. Anmerkung) festgestellt wie normal. Alle Männer, die an den Aufräumarbeiten beteiligt waren, konnten sich nicht rasieren, weil schon kleinste Ritzer nicht mehr aufhören wollten zu bluten. Unsere Medizin fand einen genialen und typischen Ausweg aus dieser Situation: Man hat einfach den Normalwert für die Thrombozyten im Blut halbiert, und schon war alles in Ordnung.

So war das auch bei den Kindern, von denen die Ärztin im Film gesprochen?

Genau so. 1988 wurde erneut eine Blutbilduntersuchung bei den Kindern vorgenommen. Dabei wurden erste Leukämie -Symptome festgestellt. Es handelt sich um Kinder aus den Familien, die am Rand der damals evakuierten 30-Kilometer -Zone leben und jetzt umgesiedelt werden sollen.

Gibt es Statistiken und Zahlen über die Häufigkeit der Leukämie-Fälle?

Die offiziellen Daten, über die die Mediziner verfügen, werden bis heute geheimgehalten. Eine Aussage beispielsweise, von tausend Kindern haben soundsoviele dieses Krankheitsbild, gibt es nicht. Es ist immer noch die offizielle Position der obersten sowjetischen Gesundheitsbehörden, daß sämtliche Krankheiten, die bei den betroffenen Kindern auftreten, in keiner Weise im Zusammenhang mit dem Unfall stehen. Wir bekommen unsere Informationen von Ärzten, die den hippokratischen Eid ernst nehmen - es sind nicht viele - und die die evakuierten Kinder aus den verstrahlten Zonen untersucht haben. Sie sagen, daß sie bei absolut allen diesen Kindern eine allgemeine Abwehrschwäche gegen Krankheiten feststellen können.

Was waren Ihre Aufgaben bei den Aufräumarbeiten?

Am 26.April habe ich nach meiner Rückkehr aus Moskau - dort hatte ich am Tag des Unfalls meine letzten Prüfungen abgelegt - von meiner Frau von der Explosion erfahren. Ich versuchte dann an diesem und dem folgenden Tag zum Atomkraftwerk durchzukommen. Aber man konnte nicht mal telefonieren. Ich gehörte nicht zu denen, die für den Betrieb oder die Überwachung der anderen Reaktorblöcke eingeteilt wurden, die also dableiben mußten. Ich selbst bin erst im Juni 1986 auf das AKW-Gelände gekommen. Bis September 1987 war ich dann einer der Leiter der Aufräumarbeiten und habe während dieser Zeit in den gefährlichsten Zonen in Block III nud IV gearbeitet. Dort, wo der „Sarkophag“ gebaut wurde.

Sind Sie über das Ausmaß der Verstrahlung damals aufgeklärt worden?

Ich mußte darüber nicht aufgeklärt werden, weil ich selbst Atomphysiker bin und wußte, wie gefährlich meine Arbeit dort war.

Wie ist es denn den Arbeitern und Soldaten ergangen, die dort eingesetzt waren? Wurden sie ausgetauscht, wenn sie eine bestimmte Strahlendosis überschritten hatten?

Ich habe mir meine Gruppe selbst zusammengesucht. Es waren meist Freunde und Fachleute, die da mitgeholfen haben. Wir haben die Leute regelmäßig, manchmal nach einem, manchmal nach zwei Monaten, manchmal auch schon nach einem Tag ausgewechselt, wenn sie eine bestimmte Strahlendosis erhalten hatten.

Wissen Sie, wieviele dieser Aufräumarbeiter später erkrankt sind?

Ich kenne keinen einzigen, der dort in dieser Zeit gearbeitet hat und nicht krank geworden wäre. Sie haben Schmerzen am Herz, an den Nieren, der Leber und am Hals, an der Schilddrüse. Sie haben Gelenkschmerzen vor allem in den Beinen und leiden unter einer furchtbaren Müdigkeit. Das Schlimmste ist, daß die offiziellen Stellen den Zusammenhang all dieser Krankheiten mit dem Unfall noch immer leugnen. Gerade in diesen Tagen gibt es einen Hungerstreik in einem der Sanatorien, wo die Kranken untergebracht sind. Sie wollen, daß ihre Arbeitsunfähigkeit, die Tatsache, daß sich junge Männer wie Greise bewegen, endlich als Folge des Unfalls anerkannt wird. Wenn der Hungerstreik weitergeht, werde ich mich nach meiner Rückkehr anschließen.

Es gibt hier in der Bundesrepublik von Seiten der AKW -Befürworter die Behauptung, Tschernobyl habe gerade bewiesen, daß die Gefährdung durch Atomkraftwerke auch nach schweren Unfällen begrenzbar ist. 31 Menschen seien umgekommen, weniger als bei manchen Grubenunglücken überall in der Welt. Wieviele Opfer hat es wirklich gegeben? Wieviel wird es geben?

Abgesehen von den 31 Opfern, die gleich nach dem Unfall bis Juni 1986 gestorben sind, gibt es inzwischen allein unter den Beschäftigten des Atomkraftwerks weitere 35 Tote. Gar nicht zu reden von den Menschen, die außerhalb des AKWs in den verstrahlten Gebieten gelebt haben. Bis heute sterben junge Männer, Soldaten, die damals im Alter von 18 oder 20 Jahren den hochradioaktiven Graphit praktisch mit bloßen Händen weggeräumt haben. Ich kenne den Fall eines jungen Mannes, dessen Mutter sich mit einem Brief an die Behörden gewandt hat. Der junge Mann ist drei Jahre nach dem Unfall gestorben. Er hat praktisch sämtliche für Strahlengeschädigte typische Krankheiten gehabt. Der Mutter hat man nicht mal gesagt, daß er in Tschernobyl gewesen ist. Sie hat keine Entschädigung erhalten, ihr Sohn keinerlei Wertschätzung oder Ehrung dafür, daß er versucht hat, diesen Wahnsinn mit seinem eigenen Leib zu stoppen.

Das Gespräch führte Gerd Rosenkranz

Anmerkung: Thrombozyten sind Blutbestandteile, die bei der Blutgerinnung eine wesentliche Rolle spielen. Ihre Entwicklung reagiert besonders empfindlich auf Strahlenbelastungen.

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