Wie es zur Wende kam - aus der Sicht der Stasi

■ Der Ostberliner Basisdruck-Verlag veröffentlicht in diesen Tagen die politischen und strategischen Lageeinschätzungen der Staatssicherheit

Hielten die regierenden Kreise die Welt der Massenaufmärsche und Erfolgsmeldungen wirklich für die Realität? Warum reagierte die Parteiführung nicht auf den wachsenden Unmut der Bevölkerung? Diese Fragen sollen die Stasi-Dokumente beantworten, die dieser Tage im Basisdruck-Verlag im Haus der Demokratie (Ost-Berlin) unter dem Titel „Befehle und Lageberichte des MfS“ erscheinen. Die 56 dort weitgehend ungekürzt veröffentlichten „Hinweise“ des Stasi für die Partei- und Staatsführung und Befehle des Stasi-Chefs Mielke an seine Dienststellen geben Aufschluß über die Unfähigkeit der staatlichen Stellen, auf die Zuspitzung der Krise der DDR-Gesellschaft im Jahre 1989 zu reagieren.

Die Dokumentation beginnt mit den Berichten über den Schweigemarsch zum 70.Jahrestag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Leipzig am 7.Januar 1989: Die Organe hatten zwei nächtliche Flugblattverteiler erwischt und dabei 102 Blätter konfisziert. „Sozialistische Demokratie beginnt nicht erst im gelobten Land“, wird auf dem Papier mit Rosa Luxemburg gefordert. Die Staatssicherheit kennt ihre Pappenheimer, Einschüchterungsmaßnahmen haben aber keinen durchschlagenden Erfolg: Der Leipziger Sekretär Schumann teilt in seinem persönlichen Brief an den „lieben Genossen Erich Honecker“ vom 16.1. mit, bei dem von kirchlichen Kreisen organisierten „Schweigemarsch“ seien „keine Symbole“ mitgeführt worden. Die Staatssicherheit nimmt das Ereignis sehr ernst, kann aber nach Berlin mitteilen, der Vorfall habe „kaum Öffentlichkeitswirkung“ gehabt.

Regelmäßig berichetet die Stasi über die Grüppchen, nennt immer wieder dieselben Namen der „Rädelsführer“, kennt auch die Themen. Bei der Umwelt-Gruppe „Arche“ will das MfS sogar quasi pädagogisch eingreifen (siehe Dokument 1). Die Liebe der Stasi zur

unpolitischen Theologie

Soweit diese Oppositionsgruppen im Rahmen der Kirche arbeiten, gibt es für die Stasi stets die gleiche Strategie: Gespräche mit kirchlichen Amtsträgern und ein Drängen auf „Theologisierung“ der innerkirchlichen Arbeit. Beim Friedensseminar vom 26.Februar in Greifswald wird aber deutlich, daß diese Strategie nicht immer zieht; detaillierte Spitzelberichte aus den Arbeitsgruppen zeigen den ausschließlich politischen Charakter des kirchlichen Seminars.

Immerhin habe „durch langfristig gezielte Einflußnahme staatlicher und gesellschaftlicher Kräfte ... die Wiederwahl von Ulrike Poppe, Pfarrer Tschiche und Albani sowie von Silvia Müller verhindert“ werden können. Immer wieder dieselben Namen (siehe Dokument 2).

Die „Antragsteller“ (gemeint sind Ausreiseanträge), die in Leipzig regelmäßig auf die Straße gehen, sind der Staatssicherheit namentlich weit weniger bekannt. Rund 650 Personen hätten am 13.März nach dem Friedensgebet demonstriert, die „provokatorische“ Aktion wurde von 850 Angehörigen der Schutz- und Sicherheitsgruppe „sowie gesellschaftliche Kräften“ verhindert. Wiederholt sei es zu „verleumderischen Rufe wie 'Stasi raus'“ gekommen, beschwert sich Mielke - „streng geheim“.

Im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen werden in den dokumentierten Stasi-Berichten erstmals gesellschaftliche Probleme benannt. Ungenügende Trinkwasserversorgung, fehlende Beleuchtung auf Wegen, Fragen der sozialen Betreuung hätten bei der Vorbereitung der Kommunalwahlen Unmut ausgelöst, berichtet die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) am 26.April an Mielke, die Stimmung unter breiten Teilen der Bevölkerung habe sich verschlechtert (siehe Dokument 3).

„Betroffenheit“ bei SED-Mitgliedern registriert die Stasi „über die ganze Kompliziertheit der Situation in der UdSSR“, „destabilisierende Wirkungen in anderen sozialistischen Ländern“ werden befürchtet - das Thema taucht aber in den ausgewählten Stasi-Protokollen eher selten auf.

Zu Irritation im Volk kam es dagegen über das überraschend eingeführte Wahlrecht für Ausländer. „Auseinandersetzungen in Arbeitskollektiven“ vor allem mit Polen seien Anlaß zu Zweifeln an diesem Volkskammer-Beschluß. Am 7.Mai kam es dann tatsächlich zu elf „gegen die Kommunalwahlen gerichteten Vorkommnissen“. West-Journalisten seien offenbar aufmerksam gemacht worden - ihre Aktivitäten werden von der Stasi minutiös verfolgt. Im Juni 1989 sieht sich die Staatssicherheit immerhin veranlaßt, in einem dicken Bericht noch einmal die Facetten der Oppositionsgruppen und ihre Rädelsführer aufzulisten. „Das Gesamtpotential der Zusammenschlüsse“ beläuft sich nach Stasi-Rechnung zu dieser Zeit auf 2.500 Personen, das Programm drehe sich um die „Erneuerung des Sozialismus“, die Entmilitarisierung, die Aufgabe des Totalitätsanspruches der SED und um Probleme des Umweltschutzes.

Präzise beschreibt die Stasi die Methoden der Bewegung: durch „stille Demonstrationen provokatorisch-demonstrativen Charakters“, zum Beispiel Kerzenmahnwachen vor Kirchen, solle „unterhalb der Schwelle einer strafrechtlichen Relevanz“ gearbeitet werden. Bei der Kirche mißfällt der Stasi das „ständige Lavieren und Taktieren“ der verantwortlichen Bischöfe. Als Gegenstrategie fordert sie ein „noch einheitlicheres und konzeptionell gesichertes politisch-ideologisches und operatives Zusammenwirken und Vorgehen aller zuständigen staatlichen Stellen“. Befürwortet wird die „Schaffung von gesellschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten zur Kanalisierung bestimmter Aktivitäten vorgenannter Kräfte in gesellschaftsgemäße Bahnen“.

Auch auf sprachlicher Ebene versucht die Stasi zu intervenieren: Die Oppositionsgruppen sollten „im aktuellen Sprachgebrauch und Umgang konsequent als 'kirchliche Gruppen‘ bezeichnet und behandelt werden“, um die Landeskirchen stärker „verantwortlich zu machen“. Die Haltung der SED zu China führt im Juni noch einmal zu großen Protestversammlungen in den Kirchen, Anlaß zu neuen Stasi -Tönen gibt aber erst die Ausreisewelle. Im Juli informiert das MfS „streng geheim“ über das bedrohliche Anwachsen der Ausreiser. Da werden die Berufsgruppen aufgelistet, nach Altersgruppen und regionaler Verteilung differenziert: die Stasi hat die Ausreisewelle als sozialen Skandal analysiert. Der Erfurter Stasi-Chef Generalmajor Schwarz gibt in einer Dienstbesprechung am 31.8. das Stichwort für Honecker: „Es sind eine Reihe von jungen Menschen weggegangen, um die es nicht schade ist.“ Aber „leider sind ein paar Jugendliche dabei, die aus gutem Elternhaus sind - bis zum Mitarbeiter.“ Vom 9.September 1989 datiert ein „streng geheimer“ zusammenfassender Bericht des MfS über „motivbildende Faktoren“ für die Ausreise-Welle (vgl. Dokument 4).

Jetzt werden die Probleme auf den Tisch gepackt: die Versorgungslage, die unzureichenden Dienstleistungen, die mangelnde medizinische Betreuung, die eingeschränkten Reisemöglichkeiten, die die unbefriedigenden Arbeitsbedingungen, fehlender Leistungsbezug bei den Löhnen, Verärgerung über bürokratische Leiter, schließlich das Unverständnis über die Medienpolitik der DDR.

Reformkonzepte tauchen jedoch nicht auf. Als die dann Anfang Oktober doch aufgelistet werden - Reform der Volkswirtschaft, Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie, ehrliche Informationspolitik, „volle Gewährleistung innerparteilicher Demokratie“ - ist es längst zu spät (vgl. Dokument 5).

Als Mitte Oktober die Kampfgruppen der Arbeiterklasse zusammengerufen werden sollten, um die Ordnung zu verteidigen, gibt es Befehlsverweigerung und Austritte aus der SED. „Schlußfolgerungen“, wie die „Einsatzfähigkeit“ der Kampfgruppen gewährleistet werden könnte, überläßt die Staatssicherheit, die bis dahin alles selbst zu steuern versuchte, diesmal vornehm zurückhaltend der Partei.

Das Fernschreiben des neuen Generalsekretärs der SED, Egon Krenz, am 25.10. an alle Stasi-Dienststellen weitergeleitet, gibt auch keinerlei Fingerzeig, wo es langgehen könnte. Die SED ist von der fundamentalen Welle der Unzufriedenheit völlig überrascht.

Nachdem die Stasi schließlich die gesellschaftliche Unzufriedenheit festgestellt und die Ratlosigkeit der Partei dokumentiert hat, ordnet Mielke am 2.November die „absolute Hausbereitschaft für 50% des Ist-Bestandes der Diensteinheiten“ an. Ein letztes hilfloses Aufbäumen gegen die Kapitulation des SED-Regimes, das eine Woche später, am 9.11., in die Öffnung der Mauer hineinstolperte und damit sein Scheitern besiegelt hat.

Was in den Stasi-Dokumenten fehlt (zumindest in der Auswahl der Dokumentation des Basisdruck-Verlages), ist die Auseinandersetzung mit der ungarischen Politik der offenen Grenze, die erst das Anschwellen der Ausreise-Welle ermöglicht und damit die DDR-Bevölkerung ermutigt hat in ihrem Aufbegehren, das ihr noch Anfang des Jahres niemand zugetraut hätte - auch die Stasi nicht.

Klaus Wolschner