Kopffrau mit Ambitionen

■ Christina Schenk ist Berliner Spitzenkandidatin des Unabhängigen Frauenverbands der DDR, der sich mit der Grünen Partei zu einem grün-lila Wahlbündnis zusammengeschlossen hat. Die Feministin hat ihre Utopien inzwischen einer „Politik der Schadensbegrenzung“ untergeordnet

Mehrere Lesbenzeichen an der Wohnungstür und ein Aufkleber: „Andere machen Politik mit Frauen - wir machen Frauenpolitik“ weisen den Weg. Wohnzimmer und Schreibtisch sind mit Papier übersät, aber in der Küche ist noch Platz. Sie bleibt in diesen Tagen oft kalt, denn häusliche Gemütlichkeit steht bei der Bewohnerin zur Zeit nicht auf dem Programm. Christina Schenk ist Berliner Spitzenkandidatin des Unabhängigen Frauenverbands (UFV), der mit der Grünen Partei am 18.März in einem grün-lila Bündnis zur Volkskammerwahl antritt. Ihre Eckdaten: 37 Jahre, Physikerin, Feministin, Lesbe, keine Kinder, unverheiratet. Sieben Jahre war sie Mitglied in der SED. Anfang der 80 Jahre, angesichts der politischen Krise in Polen, legte sie sich mit „Altstalinisten“ ihrer Partei an. Darauf sagte sie sich: jetzt reicht's - und gab ihr Buch zurück. Das war 1982.

Bis vor kurzem dachte Christina Schenk nicht im Traum an eine Zukunft als „Berufspolitikerin“. Zu wichtig schien ihr da noch ihre Forschungsarbeit, ihre Dissertation zum Thema „psychosoziale Situation von Lesben in der DDR“. Nach bürokratischen Hürdenläufen hatte sie vergangenen Herbst endlich ein 3jähriges Stipendium genehmigt bekommen. Aber dann funkte die Historie dazwischen und riß die Wissenschaftlerin von ihrem Schreibtisch weg, hinein in die institutionelle Politik. Und als dann der UFV beschloß, sich an der Wahl zu beteiligen, kostete sie die Kandidatinnenfrage ein paar „schlaflose Nächte“, bevor sie beschloß: Ich mach's. Denn: „Ich kann nicht nur zugucken, wie alles den Bach runter geht.“ Gemeint sind damit vor allem die ökonomischen und sozialen Schläge, die die Frauen in der DDR bei einem schnellen Anschluß an die Marktwirtschaft einstecken müssen. Täglich laufen im Büro des UFV neue Meldungen über Entlassungen und Schließungen von Kinderkrippen ein. Frauen sind die ersten Verliererinnen. Noch hofft Christina Schenk aber, daß sich beim Vereinigungsprozeß „etwas mitgestalten läßt“, wenn die DDR schon ihre Souveränität nicht bewahren kann. Vor ein paar Monaten wollte sie nach einer Vereinigung noch auswandern. Jetzt setzt sie auf den Faktor Zeit, darauf, daß die Währungs- und Wirtschaftsunion schon übermorgen wahr wird. „Ich gehe nicht davon aus, daß wir die Legislaturperiode zu Ende bringen“, sagt Christina Schenk. Sie rechnet inzwischen damit, daß sie ab 18.März für unbestimmte Zeit in der Volkskammer sitzen wird. DDR -Meinungsumfragen haben für das grün-lila Bündnis einen Stimmanteil von 3 Prozent ermittelt. Sie ist solchen Umfragen gegenüber skeptisch. Aber in einer Wahlkampf-TV -Runde antwortet sie auf die Frage, wieviel Stimmen ihr Bündnis erwarte, auch schon mal - ganz routinierte Politikerin: fünf Prozent. Christina Schenks Autritte sind unspektakulär, manchmal etwas hölzern. Eine begabte Rednerin ist sie nicht. Wahrscheinlich hat das auch mit ihrer Behinderung zu tun, die sie von ihrer „kleinen Technik“, einem Hörgerät abhängig macht. Doch was sie sagt, hat Hand und Fuß, ist nüchtern und bestimmt. Auf den ersten Blick wirkt sie verschlossen, beinahe mürrisch. Nein, das ist nicht das passende Wort. „Kinnig“ würden meine schwäbischen Freundinnen sagen. Ab und an aber blitzt der Schalk hinter ihren Brillengläsern auf, dann grinst sie - belustigt, ironisch oder auch spöttisch. Die Frau hat also doch Humor. Die Naturwissenschaftlerin, stets überdurchschnittliche Schülerin und Studentin, ist ein Kopffrau mit Ambitionen. Sie hat gelernt, gestellt Aufgaben anzupacken, zu strukturieren. Und wenn schon wieder das Telefon klingelt, und sie „angefragt“ wird für eine Wahlrunde im Fernsehen oder gebeten wird, binnen einer Stunde für ihre erkrankte Verbandskollegin am Runden Tisch einzuspringen, dann kommt sie zurück und greift den Faden des unterbrochenen Gesprächs gleich wieder an der richtigen Stelle auf. Retten, was zu retten ist

Christina Schenk ist eine der Gründungsmütter der neuen DDR -Frauenbewegung, die seit der „Wende“ in der ganzen Republik Blüten treibt. Sie gehörte zum Lesbenkreis in der Ostberliner Gethsemane-Gemeinde, eine der ältesten Lesbengruppen im Lande. Feministinnen dieser Runde hoben vergangenen November zusammen mit anderen Ostberliner Frauen die Lila Offensive (Lilo) aus der Taufe. Ihr Ziel: eine „politische Frauenbewegung“ in der DDR. Kaum einen Monat später war es soweit: Auf Initiative der „Lilos“ wurde der Unabhängige Frauenverband gegründet, dem sich inzwischen Dutzende von Frauengruppen zugehörig fühlen, dem die Sympathien von Tausenden von Frauen im ganzen Land gelten. Hat doch diese große Koalition aus Feministinnen, Christinnen und (Real-) Sozialistinnen nach 40 Jahren „sozialistischer Gleichberechtigung“ zum ersten Mal die reale ökonomische, soziale und sexuelle Diskriminierung von Frauen breit in die Öffentlichkeit getragen und daraus eigenständige politische Forderungen abgeleitet. Sind auch die Visionen von einer ganz anderen, ökologischen und radikaldemokratischen Gesellschaft, die „Abkehr von androzentrischen Maßstäben“ schnell einer „Politik der Schadensbegrenzung“ gewichen. „Wir arbeiten heute vor allem nach dem Grundsatz: retten, was zu retten ist“, beschreibt Christina Schenk mit gewisser Resignation die momentane Lage. Der Sog der Ereignisse lasse keine Zeit mehr für inhaltliche Diskussionen. „Wir sind zu wenige und haben keinen richtigen Arbeitsstab wie die anderen Parteien und Gruppierungen.“ Ein loser Zusammenschluß von Einzelkämpferinnen. Auf der Strecke bleibt auch die Auseinandersetzung über feministische Politik und Autonomie. Die leidige „Männerfrage“, die Frage, wie unabhängig die Frauen von Männern bleiben wollen, werde früher oder später zur Zerreißprobe des Verbands, befürchtet die Feministin. Realpolitik am Runden Tisch

Inzwischen ist Christina Schenk Spezialistin für Gleichstellungsfragen. Seit Anfang Januar leitete sie die Arbeitsgruppe „Gleichstellung von Frauen und Männer“, die auf Initiative des UVF vom Runden Tisch eingerichtet wurde. Vertreterinnen fast aller oppositionellen Parteien und Gruppierungen (außer SPD und DA) einschließlich der PDS und des DFD erarbeiteten dort ein Grundsatzpapier zur zukünftigen Frauenpolitik, das am 5.März dem Runden Tisch vorgestellt wurde. Die grundlegenden Forderungen des UFV fanden darin Eingang: so das Recht auf Berufstätigkeit (das der UFV in der zukünftigen Verfassung verankert sehen möchte), das Recht auf bedarfsdeckende und erschwingliche Kinderbetreuung, flexible Arbeitszeiten und Teilzeitmöglichkeiten für Frauen und Männer, die Aufwertung weiblicher Erwerbsarbeit, ein Gleichstellungsgesetz und Gleichstellungsbeauftragte auf allen politischen Ebenen, eine Quotenregelung in allen gesellschaftlichen Bereichen, der Schutz von Frauen und Kindern vor männlicher Gewalt, das Verbot der kommerzialisierten Zurschaustellung und Vermarktung des weiblichen Körpers, das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und damit das Recht auf unentgeltlichen Schwangerschaftsabbruch. Christina Schenk ist „immer noch überrascht über den Konsens“, den die Arbeitsgruppe in diesen Fragen fand. Einige Forderungen wie zum Beispiel das Recht auf Arbeit und auf selbstbestimmten, kostenlosen Schwangerschaftsabbruch wurden in die Sozialcharta übernommen, die vom UFV maßgeblich forciert wurde. Gegen die Stimmen der CDU einigte sich der Runde Tisch auf die Einrichtung eines Gleichstellungsministeriums. Modrow hat dieser Forderung allerdings nicht nachgegeben. Die Ergebnisse des Runden Tisches haben für die zukünftige Regierung natürlich keinen bindenden, sondern nur empfehlenden Charakter. Aber der UFV hofft - vor allem darauf, daß nicht die „Allianz für Deutschland“, CDU, DSU und DA, die Wahlen gewinnt.

Ein bißchen stolz ist Christina Schenk auch darauf, daß speziell auf ihr Betreiben hin in das neue Parteiengesetz ein Passus aufgenommen wurde, der die Diskriminierung von Gruppierungen wegen ihrer sexuellen Orientierung verbietet. Und natürlich fordert auch der UFV die volle Gleichstellung aller Zusammenlebensformen, „insbesondere lesbischer Partnerschaften“.

Apropos Partnerschaft: Ihre Freundin, ebenfalls UFV -Aktivistin, bekommt Christina Schenk zur Zeit fast nur noch dienstlich zu Gesicht. Was also bringt ihr neben all dem Streß der Sprung in die große Politik? „Keine Angst mehr vor großen Menschenmassen, vor Mikrophonen und Kameras.“ Als sie für den Runden Tisch benannt wurde, konnte sie drei Nächte nicht schlafen vor lauter Sorge: Das packst du nie. Heute weiß sie, „daß andere auch nur mit Wasser kochen“, daß sie auch mithalten kann. „Für mein Selbstwertgefühl war das sehr wichtig.“

Ulrike Helwerth