Warenbeziehungen

■ Intimität und Öffentlichkeit im Wahlkampf / Bericht aus dem Dresdener Stollen (1.Folge)

Das „Tal der Ahnungslosen“ ist keines mehr. Schon vor der spontanen Volkserhebung gab es Hügel im Tal, auf deren Gipfel westliche Satellitenprogramme auf offene Augen und Ohren trafen; jetzt ist ein Drittel der Fernseher verkabelt.

Alte und neue Öffentlichkeit nebeneinander: im Bahnhof werben pädagogische Fotos, amtlich unterschrieben, für das „Einschreiten der Schutzpolizei zur Beseitung von Gefahren für das Leben und die Gesundheit der Bürger“. Draußen gibt die Leuchtschrift über dem Portal statt der Meldungen des 'Neuen Deutschland‘ den „Tagesmittelwert der SO2 -Konzentration in Dresden“ bekannt. Hier schreitet die Schutzpolizei nicht ein.

Der Sozialismus in seiner realexistierenden Form hat ein inniges Verhältnis zur Öffentlichkeit auf städtebaulicher Ebene. Dieselbe ist zubetoniert und bietet reichlich Platz für Aufmärsche aller Art. Auferstanden aus Ruinen sind Silos auf toter Fläche; Intimität und ihr Pendant, also lebendiges, nicht vorgeformtes Miteinander, sind zurechtgestutzt auf das mindestmögliche Maß. (Fahnenstangen allerdings, auf Paradestrecken an den Wohnungsaußenwänden angebracht, recken den Stumpf in die schweflige Luft).

Bei den Gastgebern die ersten Gespräche, die, wie üblich, den Versorgungsfragen gelten: Ankunft im Reich der Notwendigkeit. Die eigentliche Absurdität: daß Privatbeziehungen zu Warenbeziehungen werden (man muß einen Klempner kennen, mit einem Automechaniker befreundet sein, eine Kühltechnik-Verkäuferin in der Verwandtschaft haben) in einem Staat, der sich die Aufhebung der Entfremdung zum Ziel gesetzt hatte. Die Verdinglichung, der wir im Berufsalltag ausgesetzt sind, wird hier in den Privatalltag verschoben.

„Hoffnungen kaufe ich nicht“, schrieb der römische Komödiendichter Terenz im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Daß Hoffnungen gleichwohl verkäuflich sind, davon zeugen die Wahlplakate, die sich nur in der Ausstattung, nicht im Niveau von den westdeutschen unterscheiden. Hoffnungen scheinen den derzeitigen Wechselkurs zu bestimmen, Befürchtungen gehören dem Schwarzmarkt an.

Elke Schmitter