„Überall im Land warten die Menschen ab“

In Lenzen, einer Kleinstadt an der Elbe, ist vom Wahlkampf kaum was zu spüren / Nur die SPD hat sich neu gegründet / Vierzig Jahre Stillhalten hat die Menschen ratlos gemacht / Die meisten bangen um ihre ökonomische Zukunft  ■  Von H.Lukoschat und R.Speth

Lenzen (taz) - Vier Jahre Redeverbot hatten die Männer von der Staatssicherheit Georg G. aufgebrummt. Doch dieses Jahr durfte der beliebteste Büttenredner des Lenzener Karnevals wieder richtig vom Leder ziehen: Als „Stasi-Mann im Untertagebau“ berichtete er von seiner „Wühlarbeit“. In dem 3.000-Einwohner-Städtchen an der Elbe ersetzt der Karneval das politische Leben. Jetzt, kurz vor der Volkskammerwahl, geht wieder alles seinen gewohnten Gang. „Still ruht der See“, sagt dazu resigniert ein langjähriges CDU-Mitglied, dessen überalterter Ortsverein vor dem Wahlkampf schlicht kapituliert hat.

Wer die dörfliche Hauptstraße entlang bummelt, muß schon sehr aufmerksam sein, um die paar Wahlplakate in den Schaufenstern zu entdecken. An Häuserwänden dürfe nichts angeschlagen werden, hatte der Rat der Stadt weise entschieden. Der Wahlkampf erfolgt nun hinter Glas. Nur die Liberalen waren keck und haben Plakate mit dem Konterfei des Grafen Lambsdorff an den einen oder anderen Zaun geklebt. Einmal hat schon der Hund hingepinkelt.

Lenzen liegt an der Grenze zwischen Mecklenburg und Brandenburg: Den Menschen hier wird nachgesagt, bodenständig und bedächtig, wenn nicht gar stur zu sein. Liegt es daran, daß es so ruhig zugeht?

„Nein“, wehrt Dagmar Ziegler, die junge Vorsitzende des SPD -Ortsvereins ab, der einzigen Gruppierung, die sich in dem Elbstädtchen seit der „Wende“ neu gegründet hat: „Überall im Land warten die Menschen ab.“ Was Ratlosigkeit und Initiativlosigkeit angehe, bildeten die Lenzener keine Ausnahme. Rund 30 BürgerInnen waren da zur Gründungsversammlung vor knapp vier Wochen, 15 konnten als Mitglieder gewonnen werden. Weil die SPD aber beschlossen hat, nur parteilose Bürgerinnen und Bürger aufzunehmen, sei es nun schwierig, kompetente Leute zu finden. Die unbeliebte bis verhaßte SED hat als neue PDS immerhin noch 60 Mitglieder. Im Wahlkampf hat man sich bisher bewußt zurückgehalten.

Viele Betriebe sind unrentabel

Erst vor zwei Jahren ist die Diplomökonomin Ziegler zusammen mit ihrem Mann und den zwei kleinen Kindern von Leipzig hierhergekommen. Die Umweltverschmutzung wurde unerträglich, da wollte sie aufs Land. Nun bewohnen die Zieglers ein idyllisches Anwesen am Nebenfluß der Elbe; traumhaft schön ist die Flußlandschaft mit ihren Wiesen, Weiden und Bäumen. Ein Naturschutzgebiet soll hier entstehen. Im Lenzener „Wahlkampf“ spielt der Umweltschutz kaum eine Rolle-, an erster Stelle stehen die ökonomischen Fragen, die Sicherung der Arbeitsplätze, der Renten, der Sparguthaben. Den Verlust des Arbeitsplatzes fürchten viele Lenzener nicht zu Unrecht. Mit über 600 Beschäftigten sind die LPGs Tier- und Pflanzenproduktion die größten Arbeitgeber am Orte. Für die Bewirtschaftung von 10.000 Hektar Land (davon 70 Prozent Weide) benötigt die LPG rund 300 Leute. Nach bundesdeutschen Maßstäben genügen dafür 150 Arbeitskräfte.

Unrentabel arbeiten auch drei kleinere Industriebetriebe. So das Leichtbauplattenwerk: Die Anlagen, in den sechziger Jahren aus den Niederlanden importiert, sind schrottreif. Welche Alternativen können sich bieten? Die SPD will kleine Gewerbe- und Handwerksbetriebe ansiedeln, in umweltverträglichem Maße den Tourismus fördern. Aber die ortsansässigen Geschäftsleute setzen eher auf die CDU. „Wir wählen die Allianz für Deutschland“, kommt es wie aus der Pistole geschossen bei einer jungen Kauffrau, die den halbstaatlichen Spirituosenhandel des Ortes betreibt.

Von der Allianz erhofft man sich, daß sie schneller „das Geld“ ins Land holt. Weil aber gleichzeitig die Ängste da sind vor dem „Ausverkauf“ und auch das Vertrauen in die eigenen Kräfte weitgehend fehlt, fühlen sich viele dann doch eher zur SPD hingezogen. Besonders kommen die Ängste hoch, wenn es um das Problem der „Westgrundstücke“ geht. Das Sperrgebiet um Lenzen wurde in drei Ausweisungswellen von „unliebsamen“ Personen gesäubert. Bei Nacht und Nebel wurden die Menschen aus ihren Häusern geholt. Jetzt hat sich schon der ehemalige Brauereibesitzer zurückgemeldet, und auch der Besitzer eines Seegrundstückes, auf dem heute eine Wohnsiedlung steht, hat Ansprüche geltend gemacht. Die Leute fürchten nun um ihre Wohnungen. Die wenigsten sind darüber aufgeklärt, daß sie als Mieter Rechte besitzen und nicht einfach rausgeworfen werden können. Zur Verunsicherung trägt das protzig-gebieterische Gebaren einiger Bundesbürger noch seinen Teil bei. Revierförster Bert Gritsch, langjähriger Vorsitzender der Blockpartei LDPD, heute LPD, ist sehr dafür, „in Richtung Einswerden“ zu gehen. „Aber es dürfen nicht zu viele kommen, die uns bevormunden und Befehle erteilen, das hatten wir 40 Jahre“. So wurde ihm berichtet, daß die bundesdeutschen Kollegen vom niedersächsischen Staatsforst bereits als die neuen Herren und Meister auftreten. Über so viel Unverschämtheit kann der 57jährige nur den Kopf schütteln. Er ist einer der wenigen, die wief genug sind, sich nicht einschüchtern zu lassen, und der seinen Stolz behalten hat.

Mit über 30 Mitgliedern ist die LDP in Lenzen recht stark vertreten; es sind Kaufleute, Handwerker und Lehrer. Aber auch die LDP hat keine einzige öffentliche Veranstaltung gemacht. „Wir lernen den Wahlkampf erst“, sagt Gritsch. Dafür hat die zweite Vorsitzende der bundesdeutschen Liberalen, Adam-Schwaetzer, in der größten Nachbarstadt Wittenberge kräftig die Wahltrommel gerührt.

Geduldig zuhören

Von der Bürgerbewegung, den Grünen oder dem neuen Frauenverband ist in Lenzen selbst nichts zu merken. In Perleberg, einer größeren Stadt rund 30 Kilometer entfernt, stellte sich die Spitzenkandidatin des Neuen Forums Schwerin vor. Eingeladen hatte der Bündnispartner Demokratie Jetzt. Gekommen ist eine Handvoll Leute, man kennt sich im „Haus der Demokratie“, dem ehemaligen Sitz der SED, man bleibt unter sich. Ruhig und intensiv wird miteinander diskutiert, immer wieder auch die Frage gestellt, warum die Resonanz in der Bevölkerung so gering ist. Obwohl doch die Bürgerbewegung, wie man sich stolz immer wieder ins Gedächtnis ruft, die Wende eingeleitet hat. Obwohl es so wichtig ist, wie eine junge Frau sagt, „endlich für sich selbst sprechen zu dürfen“. Aber viele können und wollen das gar nicht mehr.

Den Perleberger BürgerrechtlerInnen hätte es wahrscheinlich Schauer über den Rücken gejagt, hätten sie die Wahlveranstaltung der konservativen DSU in Lenzen miterlebt. Kurzfristig angekündigt, wurde in der „Stadt Hamburg“, dem einzigen Gasthof des Ortes, dann doch noch Wahlkampf betrieben. Erst sprach ein Herr von einer niedersächsischen Freien Wählervereinigung und pries das soziale System der Bundesrepublik in den höchsten Tönen. Der Spitzenkandidat der DSU aus Schwerin hatte sich verspätet, endlich kam er selbstbewußt herein: ein geschniegelter 24jähriger Theologiestudent, arrogant vom Scheitel bis zur Sohle. Im Befehlston machte er klar, was nun Sache ist: dem Sozialismus abschwören, dem neuen Gott Marktwirtschaft huldigen. Die paar Lenzener, die sich in den Gasthof verirrt hatten, hörten geduldig zu. Ihren Gesichtern war nicht anzumerken, wie sie den Auftritt fanden. In vierzig Jahren haben sie sich das Stillhalten antrainiert.