DIE WESTGOTEN KOMMEN

■ Sommer 1990: DDR vor dem touristischen Infarkt

Karl-Heinz Gummrich versteht die Welt nicht mehr. „Ich frage mich“, so der Chef des Reisebüros der DDR, „ob die Mauer wieder her muß, wenn ich das hier höre.“ Was er auf einer Podiumsdiskussion anläßlich der Internationalen Tourismus -Börse in Berlin zu hören bekam, waren Ängste, Sorgen und Horrorvisionen vom drohenden touristischen Infarkt der DDR. Der Exodus geht unvermindert weiter - täglich laufen immer noch fast 2.000 Leute weg -, da droht der DDR Ungemach von ganz anderer, unerwarteter Seite: Die Wessis kommen - und nicht zu knapp.

Schon bei den ersten Sonnenstrahlen im Winter stürmten die bundesdeutschen Westgoten die Wartburg, erklommen rudelweise den Brocken, schleusten sich durch die Wohnhäuser von Goethe und Schiller in Weimar und okkupierten jedes freie Plätzchen in den Restaurants rund um den Ostberliner Müggelsee. Ohne Visum und Eintrittsgeld genießen die Bundesdeutschen mit der harten D-Mark ihre neue Reisefreiheit auf dem Territorium des Nachbarstaates. Viele Bürgerinitiativen, Natur- und Umweltschutzverbände und kritische Lokalpolitiker in der DDR entwerfen regelrechte Katastrophenpläne, wie der touristische Ausverkauf der DDR gestoppt werden, wie vor allem die Landschaft ohne irreparable Trittschäden durch die ostwärts einfallenden Heuschreckenschwärme geschützt werden könne. Erst mal halbwegs unbeschadet über diesen Sommer kommen, ist die immer wieder mit Stirnrunzeln vorgebrachte Hoffnung der neuen DDR-Tourismuskritiker.

Für Iri Wolle von der Grünen Liga sind die Bürger in ihrer noch real existierenden Deutschen Demokratische Republik längst zu Touristen zweiter Klasse geworden. Ja, ihr könnt kommen, aber nur gegen D-Mark, wird vielen DDR-Urlaubern in diesem Jahr bedeutet, die die heimische Ostsee als Urlaubsziel ansteuern wollen. „Viele ehemalige Betriebsheime, Stasihäuser und Einrichtungen von Ministerien stehen für den Westtourismus zur Verfügung. Auch das FDGB -Hotel Neptun in Warnemünde will Kohle machen“, erläutert Iri Wolle die Situation, die sie „etwas makaber“ findet.

Auch Karl-Heinz Gummrich vom Reisebüro der DDR sieht „die BRD-Bürger nicht mehr ante portas, sondern bereits drinnen in der Burg“. Eine andere Tourismusphilosophie sei erforderlich. Der Fremdenverkehr sei allerdings der Wirtschaftszweig, mit dem man am schnellsten an die harte Währung herankommen könne.

Bis zum 9. November 1989 war der Tourismus in der DDR vor allem ein Sozialtourismus. 80 Prozent aller Reisen dienten als Reproduktionsfaktor für das gesellschaftliche Arbeitsvermögen. Mit zwei Milliarden wurde er subventioniert. Die eine Hälfte kam aus dem Staatshaushalt , die zweite aus den Betrieben. Kuren waren kostenlos. Der gewinnorientierte Tourismus, das „Incoming“ aus den westlichen Ländern, hätte „nicht mehr als ein Prozent des erwirtschafteten Produkts“ der DDR ausgemacht, schätzt Professor Godau von der Dresdener Hochschule für Verkehrswesen.

Doch schon bald wird sich die Struktur des Tourismus in der DDR einschneidend verändern: Im Europäischen Wiederaufbauprogramm (ERP) der Bundesregierung in Höhe von sechs Milliarden sind allein 700 Millionen für Tourismusinvestitionen in der DDR ausgewiesen. Es werden Kredite im privatwirtschaftlichen Bereich vergeben, um abgetaktelte Beherbergungsbetriebe wieder aufzumöbeln.

Mit einer Reihe von Gesetzen will die DDR selbst den Tourismus auf den marktwirtschaftlichen Weg bringen: Ein Gesetz sieht Joint-ventures, also Beteiligungsformen ausländischer Unternehmen bis hin zum Gewinntranfer vor; ein weiteres Gesetz gewährt die volle Gewerbefreiheit von mittelständischen privaten Unternehmern, und ein Steueränderungsgesetz dient als Stimulans zur Leistung. Ein vom Tourismusministerium angekündigter Masterplan soll den Rahmen abgeben für die Entwicklung des Tourismus in den verschiedenen Teilen der DDR auf der Grundlage der sozialen Marktwirtschaft.

„Wir wollen möglichst weitgehend Formen eines sanften Tourismus anstreben“, sagte DDR-Tourismusminister Professor Bruno Benthien der taz, „wobei ein ausgewogenes Verhältnis zum Tourismus als ein Zweig der Volkswirtschaft bestehen muß.“ Um die Balance zwischen Ökonomie und Ökologie auszutarieren, müßten für schützenswerte Landschaftsgebiete strenge Bewirtschaftungsrichtlinien gelten und infrastrukturelle Einrichtungen des Tourismus sich nach diesen orientieren. „Wir stellen uns die Entwicklung in der Mecklenburgischen Seenplatte so vor“, erläutert Benthien die sanfte touristische Regionalentwicklung, „daß dort neue Hotelbauten in den Städten in einer angemessenen Größenordnung entstehen und nicht gerade in die Erholungsgebiete selbst hineingehen.“

Die Hauptsorge der DDR-Tourismuskritiker ist, daß die Umwelt in der DDR durch die westlichen Reisewellen auf der Strecke bleibt. „Wegspüleffekte bei Natur und Landschaft“, prognostiziert auch Professor Godau. Schadensbegrenzung ist das Stichwort. In einigen Gebieten, wie beispielsweise dem Spreewald und dem Brocken, scheint die Schmerzgrenze schon erreicht. Iri Wolle von der Grünen Liga nennt als Negativbeispiel des Naturschutzes die Sächsische Schweiz, die jetzt mit dem touristischen Coming-out zu kämpfen hat. „Hier werden Rundflüge unterhalb der 50-Meter-Grenze veranstaltet, mit alten Agrarflugzeugen, die lärmen und stinken. Ein halbe Stunde kostet 500 Mark.“ Von einem Felsen, auf dem Wanderfalken nisten, würden sich die Drachenflieger in die Tiefe stürzen. In Moritzburg schließlich sollen in Naturschutzreservaten auf 63 Hektar Fläche Golfplätze errichtet werden.

Doch der „Aufstand der Bereisten“ nimmt auch in der DDR schon konkrete Formen an: 600 Bürger haben mit ihrer Unterschrift den Tourismusminister aufgefordert, in Zukunft nur noch biologisch Interessierten den Zugang zum Brockengipfel zu gestatten. Sanfter Tourismus, kontert DDR -Tourismusminister Benthien, könne aber nun partout nicht heißen, daß bestimmte Gebiete nur für wenige zugänglich wären, und widerspräche der „Meinung Zehntausender, die den Brocken als Nationalheiligtum erklettern wollen“.

Vorsicht müsse die Mutter der Porzellankiste sein, meint Iri Wolle und ist auf der Hut, wenn der West-Elefant im Ost -Porzellanladen für die schnellstmögliche Errichtung von Bettenburgen in der DDR auftritt. Sie glaubt, wie übrigens Herr Gummrich vom DDR-Reisebüro auch, nur an einen „Neugiertourismus, an eine vorübergehende Neu-Gier“, die vielleicht schon bald wieder abebben werde. Doch erst einmal beabsichtigen die Westler, ihre Brüder und Schwestern inklusive Natur und Landschaft vor Ort in Augenschein nehmen. Nach der Reiseanalyse 1989 des Studienkreises für Tourismus wollen insgesamt 5,5 Millionen Bundesbürger in den nächsten drei Jahren eine Urlaubsreise in die DDR machen. Schon erstaunlich, ist die DDR doch ein klassisches hochindustrialisiertes Land, das kaum infrastrukturelle Voraussetzungen zum Urlaubstourismus hat. Professor Godau aus Dresden stellt die ungeschminkte Gretchenfrage: „Wenn wir mal ehrlich sind: Wer wird eigentlich seine jahrelangen Stammquartiere in den mediterranen Warmwasserländern aufgeben und sich jetzt hier im Thüringer Wald oder im Erzgebirge aufhalten wollen? Das sind doch nur Schnupperphasen. Den meisten wird das Schnuppern schon vergehen, wenn sie das hier sehen!“ Der Mann könnte recht haben. Günter Ermlic