West ist West und Ost ist Ost

■ Die Krise der sowjetischen Gesellschaft, gesehen von Lew Gudkow, einem empirischen Soziologen aus Moskau

Sonja Margolina sprach mit Lew Gudkow, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Allunions-Zentrums zur Meinungsforschung, das vom Akademiemitglied Tatjana Saslawskaja geleitet wird. Lew Gudkow ist Mitautor eines demnächst auch in deutsch erscheinenden Buches, in dem das „Weltbild“ des heutigen Sowjetbürgers untersucht wird.

Lew, bis vor ungefähr zwei Jahren, als euer Zentrum anfing, systematisch die öffentliche Meinung in der UdSSR zu erforschen, hatte weder die Gesellschaft noch die Führung des Landes eine Kenntnis von sich selbst. Alles, was man wußte, erfuhr man in Küchen- oder Kneipengesprächen. Unsere Analysen hatten etwas Oberflächliches, Dilettantisches.

Jetzt stellen erstmals in der sowjetischen Geschichte Soziologen Daten darüber zusammen, welche Vorstellungen in der Bevölkerung zu den verschiedenen Fragen der Politik, Ideologie oder Wirtschaft bestehen.

Erstmals können sie ein zuverlässiges Bild der Gesellschaft und ein umfassendes „Porträt“ des Sowjetmenschen liefern. Erzähle bitte kurz, wie die Gesellschaft in der Phase der Perestroika euren Forschungen zufolge aussieht.

Man kann gegenwärtig zwei grundlegende Prozesse beobachten. Einerseits kommt es zu einer scharfen Politisierung und Differenzierung des öffentlichen Bewußtseins. Andererseits zu einem Zerfall des Großmachtbewußtseins. Treibende Kraft dieser Prozesse ist die allgemeine Unzufriedenheit. Dabei sind alle auf verschiedene Weise unzufrieden.

Die Großmachtideologie

Deutlich kann man die konservative Kritik stalinistischen Typs an der Perestroika ausmachen - zehn bis fünfzehn Prozent. Ein anderer Typ ist das frustrierte Großmachtbewußtsein: „Früher waren wir einmal die Besten, haben den Krieg gewonnen, waren für alle anderen ein Vorbild, heute sind wir Papuas mit Raketen.“ Doch ist diese Haltung nicht konsistent.

Sie zerfällt in einen liberalen, einen national-neutralen das macht ungefähr sechs bis sieben Prozent aus und wird politisch von den Deputierten der Interregionalen Gruppe repräsentiert - und in eine rasch anwachsende Strömung der nationalen Wiedergeburt - das sind etwa neun bis zehn Prozent. Die werden in den Republiken von den Volksfronten repräsentiert.

Dann folgen die radikalen Stimmungen der bewußten Russen mit sieben bis acht Prozent. Auf dem rechten Flügel dieser Gruppe steht die extrem konservative Gruppe „Pamjat“. Natürlich handelt es sich hierbei eher um Tendenzen als um abgeschlossene, definitive Positionen. Sie werden zusammengehalten durch einen allgemeinen Populismus, der nicht auf Prozesse, sondern auf Symbolfiguren fixiert ist.

Du hast vom Zerfall des Großmachtbewußtseins gesprochen. Doch gleichzeitig sind, wenn ich richtig informiert bin, mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung des Landes wie zuvor die Träger dieses Typs von Bewußtsein, unabhängig von den mächtigen ideologischen Erosionsprozessen. Könntest du nicht etwas zu den Wurzeln des „Großmachtkomplexes“ in der UdSSR sagen und ihn näher umreißen?

Das Großmachtbewußtsein hat das totalitäre, das in den zwanziger Jahren entstanden war, abgelöst. Bis Anfang der sechziger Jahre waren die Träger des totalitären Bewußtseins die gebildeten Schichten und Gruppen der städtischen Intelligenz und des Leitungsapparates einschließlich Armee, Gerichte, NKWD, Innenministerium usf. Eine Massenbasis hat die totalitäre Ideologie als Ganzes nie gefunden: Das Bildungsniveau war zu niedrig. Traditionen und moralische Normen, die noch aus der Dorfgemeinde stammten, u.ä. standen ihrer Übernahme entgegen.

Mit den sechziger Jahren entsteht trotz allem eine ziemlich kohärente kulturelle Formation, die die früheren Strukturen des totalitären Bewußtseins ablöst - das imperiale oder genauer Großmachtbewußtsein. Es ist am typischsten für das nationale Selbstbewußtsein der Russen, aber nicht nur für sie.

Zu seiner Basis gehören auch bestimmte Gruppen der ukrainischen, weißrussischen, kasachischen, armenischen und grusinischen Bevölkerung sowie auch in kleinem Umfang - fünf bis zehn Prozent - Esten, Litauer und Letten. Wir meinen damit, daß bestimmte Werte der Staatlichkeit, der Staatsmacht, der Semantik des Staates konstitutive und organisierende Bewußtseinselemente werden.

„Wir“ im Unterschied zu „ihnen“, den anderen. Es handelt sich um ein paternalistisches, von der Führung und Macht abhängiges Bewußstein. Der Staat ist hier auch die Quelle aller Güter, der Sicherheit, der Lebensversorgung. Von ihm hängt ab, ob man eine Wohnung bekommt, daß man Arbeit hat, er garantiert die verschiedensten Lebensmöglichkeiten - von der Einrichtung von Kindergärten bis hin zum Schutz vor der westlichen Kultur und Sittenlosigkeit.

Es ist ein gleichmacherisches, von sozialem Neid geprägtes Bewußtsein, das sich infantil zu den zunehmenden gesellschaftlichen Spannungen und zu den eigenen Handlungsmöglichkeiten verhält. Nicht das historische Erbe, nicht die Errungenschaften der Wissenschaft und Kultur, nicht einmal die Sprache - und sie ist dasjenige Element, das die Leitung des Imperiums praktisch möglich macht -, sondern die Symbolik staatlicher und militärischer Macht, die Metaphorik der Macht, werden zu den Tragpfeilern dieses Bewußtseinstyps.

Militärmacht, Erfolge im Weltraum und im internationalen Sport, Großbauten, staatliche Demonstrationen verschiedener Art - von der Parade bis zu Machtdemonstrationen jenseits der Grenzen - werden zu Hauptelementen bei der Organisierung der Realitätswahrnehmung und des eigenen Selbstbewußtseins. Es ist ein Bewußtsein, daß es eine durch Staat und Nation verbürgte Gemeinsamkeit gibt, das Bewußtsein der Sowjetmenschen und des Imperiums im Verhältnis zu seinen Freunden und Feinden im Ausland.

Die Hauptrolle spielt hier natürlich das russische Großmachtbewußtsein, der „Große-Bruder„-Komplex mit all seinen verschiedenen Ausprägungen auf den Gebieten von Sprache, Ideologie und Leitungspraxis. Diesem Bewußtsein geht praktisch ein gesellschaftliches und geschichtliches Gedächtnis ab, es orientiert sich - anders als die totalitäre Kultur im engeren Sinne - an der offiziellen Gegenwart, es ist nicht utopisch und braucht keine Mythen.

Menschen, die so denken, machen sich Sorgen darum, daß die UdSSR ganz und unversehrt bleibt, sie vertreten die Interessen des Staates, achten darauf, daß sein Prestige nicht Schaden nimmt. Sie sind außerstande, die Prozesse, die nicht in den Rahmen der Großmachtdemonstration passen, zu verstehen oder zu interpretieren. Solche Menschen sehen in Demokratisierungsprozessen oder der nationalen Wiedergeburt einen Anschlag auf die Autorität des Zentrums, sie halten sie für Radikalismus oder puren Gruppenegoismus (meist der Mafia oder korrupten Bürokratie).

Afghanistan, das

Vietnam der UdSSR

Sie sind es auch, die bereit sind, Gewalt anzuwenden, um Differenzierungs- und Autonomisierungsprozesse zu neutralisieren. Doch ist, wie ich schon sagte, der rapide Verfallsprozeß dieses Typus des Massenbewußtseins im Gange. Dafür spricht nicht nur der quantitative Rückgang des zahlenmäßigen Anteils dieser Gruppe, sondern auch ihre Überalterung. Der stärkste Katalysator in diesem Zerfall war Afghanistan - der Krieg selbst und die Niederlage.

Die empfindlichsten Stellen des Großmachtbewußtseins waren davon betroffen: die Rechtmäßigkeit des militärischen Einsatzes und das Siegesbewußtsein in einem gerechten Krieg. Der Abzug unserer Truppen aus Afghanistan war im vergangenen Jahr das Hauptereignis bei uns. Das Ansehen der Armee ist infolge der scharfen Kritik an den Zuständen in der Armee gesunken: Dedowscina, also die menschenunwürdige Behandlung der jungen Rekruten durch die älteren Soldaten, die Teilnahme an den Tifliser Ereignissen usf.

In der Presse erschienen Artikel, in denen die Reduzierung der Armee und ihre Umwandlung in eine Berufsarmee verlangt wurden. Die Armee fühlt sich absolut hilflos angesichts des Sperrfeuers der Kritik. In diesem Jahr allerdings kann man davon ausgehen, daß die Armee und sogar der KGB wieder etwas von ihrem Prestige zurückgewinnen werden. Das hängt mit ihrem Eingreifen im Kaukasus und in Duschanbe zusammen, wo sie Menschenleben retteten. Man nimmt sie als Kraft wahr, die die kriegführenden Parteien trennen und Frieden schaffen kann.

Die Propaganda des KGB hat sich total gewandelt. Seine Teilnahme am Kampf gegen die Mafia und die Kriminalität hebt ebenfalls sein Ansehen. Das verlangsamt den Prozeß der Diskreditierung der Großmachtstrukturen. Außer Afghanistan sind es die Korruption im Machtapparat und die wachsende Gesellschaftskrise sowie das Anwachsen der wirtschaftlichen Forderungen und die Unfähigkeit des Staates auf spürbare Weise den Lebensstandard der Bevölkerung zu erhöhen, die die Zersetzung des Großmachtbewußtseins befördern.

Wir haben es also zu tun mit einer wachsenden Identitätskrise?

Es geht nicht nur um eine rein ideologische Krise - den Umfragen zufolge sind etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung davon überzeugt, daß die Probleme, die wir haben, sich aus der Natur des Sozialismus ergeben. Und es geht auch nicht nur um eine Krise der politischen Institutionen - in diesem Jahr kann man einen rapiden Verfall des Vertrauens in die Grundinstitutionen der Gesellschaft feststellen.

Mißtrauen in Zahlen

75 Prozent der Befragten bewerten die Politik der Regierung und der obersten Leitungsorgane durchweg negativ; im vergangenen Jahr waren es noch 14 Prozent. Sie glauben, daß die Leute, die in die Führungsetagen aufsteigen, die Interessen des Volkes nicht verteidigen, daß sie allein ihren eigenen Privatinteressen nachgehen.

Es wächst die Entfremdung von der Macht: 60 Prozent der Befragten halten es für notwendig, die oberste Führung des Landes und die Regierung auszuwechseln, zwischen 59 und 79 Prozent drücken ihr vollständiges oder partielles Mißtrauen in der Partei, 82 Prozent gegenüber den Institutionen der Rechtsordnung aus, 79 Prozent mißtrauen vollständig oder teilweise den lokalen Parteiorganen, 54 Prozent dem Obersten Sowjet.

Doch ebenso groß ist auch das Mißtrauen gegenüber den Vertretern der informellen Organisationen. Eine Ausnahme sind darin nur die baltischen Republiken und teilweise die kaukasischen.

Diese Vertrauenskrise ist verbunden mit einer tiefergehenden soziokulturellen Krise, die, wie ich schon sagte, fundamentale Strukturen der Großmachtidentität oder der Identifikation mit der Großmacht berühren.

In den letzten 50 Jahren hat eine gewaltige Migration stattgefunden, vor allem in die Städte. Innerhalb dieses Zeitraums sind 40 bis 45 Prozent der Bevölkerung in der einen oder anderen Weise von diesen Strukturen erfaßt worden, sind losgerissen worden von ihren Wurzeln, von ihrer kleinen überschaubaren Heimat und haben sich in diesem sozialen und kulturellen Schmelztiegel wiedergefunden.

Traditionen, örtliche Sitten und Gewohnheiten, die auf dem Land vorherrschende Moral und Vorstellungswelt sind von den Begriffen der neuen kollektiven Gemeinschaften, die den Stempel der zentralisierten Macht und des zentralistischen Staates tragen, verdrängt worden.

Die Macht namentlich wurde zu einem Surrogat für Kultur, zu einem Traditionsersatz - einerseits; und zu einem Ersatz für ein noch nicht herangereiftes Bewußtsein von der eigenen Kultur und Geschichte. Die Krise der Macht, des zentralen distributiven Kontrollsystems wurde so zu einer Krise der kulturellen und nationalen Identität.

Was folgt daraus? Alle sprechen von der Notwendigkeit, „das Volk zu ernähren“. Aber kann eine so tiefgehende Krise, die mit dem Zusammenbruch des ganzen bisherigen Weltbildes einhergeht, allein durch die Anhebung des Wohlstands bewältigt werden?

Mir scheint, daß die jetzige Krise überhaupt eine Krise außerökonomischer Art ist.

Welcher Art ist sie dann?

In einem gewissen Sinne haben wir es mit dem Endstadium eines Zerfalls zu tun, der an seine Grenzen gekommen ist. Jene Gesellschaft, die sich sozialistisch nennt, kann sich nicht ad infinitum entwickeln, sondern unterliegt in ihrer Existenz Schranken. Ich glaube, daß sich die egalitaristische und auf Distribution fixierte Bewußtseinsverfassung solange halten konnte, solange der ungerechte Charakter der statusbedingten Güterzuteilung nicht offensichtlich geworden war.

Sozialismus ist Produktion

des Mangels

Der Sozialismus ist Produktion des Mangels. Es kommt zwangsläufig der Punkt, wo auch das System der Verteilung von diesem Mangel erfaßt wird. Der Mangel erzeugt, ja erzwingt entweder die Schlange, also die unbefriedigte und aufgeschobene Nachfrage, oder die Verteilung nach Statuskriterien. Darin überschneiden sich zwei verschiedene Prinzipien der Lebensorganisation, das egalitäre, wonach alle gleichen Zugang zu den Gütern haben sollen, und das defizitäre, das die selektive, ungleiche Verteilung erzwingt. Zwischen beiden kommt es zum Konflikt. Das ganze System der sozialen Ordnung, das auf die Hierarchie gegründet ist, beginnt von innen her auseinanderzubrechen.

Deshalb verschwindet die Legitimität des hierarchisch bedingten Status?

Genau. Das Schlimme ist, daß sich damit noch lange nichts zum Besseren ändert. Es gibt auch so noch nicht mehr Waren oder Dienstleistungen. Die Situation, daß der eine mehr hat als der andere, wird unerträglich.

Dann stellt sich die Frage, ob eine solche Macht noch eine Existenzberechtigung hat, ob man sie nicht lieber abschaffen sollte. Welcher Idiot braucht eine Macht und wer will die mit ihr verbundene Verantwortung übernehmen, wenn nichts dabei herausspringt, wenn keine Sonderdatsche für ihn abfällt und er genauso in der Schlange stehen muß wie alle anderen?

Ganz richtig. Die Aufgabe der Soziologie ist es, die innere Logik des Prozesses herauszufinden. Es ist unsinnig, zu sagen, daß es in diesem Land keine Seife und keine Strumpfhosen gebe. In den sechziger Jahren lebten alle in Kommunalkas (Gemeinschafstwohnungen), der Lebensstandard war bedeutend niedriger.

Doch den innere Konflikt, den wir heute haben, gab es damals nicht. Warum sinkt die Autorität des Parteiapparates trotz des nach wie vor existierenden Großmachtkomplexes so rapide? In Tschernigow haben die Leute den „Wolga“ der Gebietsparteileitung umgeworfen, als man im Kofferraum die Sonderrationen von Wurst und Kaviar entdeckte.

Die Wolgograder Gebietsorganisation der Partei mußte zurücktreten, weil sie mit Wohnungen geschoben hatte. Man hat keine Angst mehr, und man nimmt die Situation nicht mehr hin. Die existierenden Mechanismen arbeiten für die Zerstörung der sozialen Ordnung. Das ist weitaus wichtiger als das Fehlen von Lebensmitteln. Dies erklärt, warum die Menschen den Glauben an eine Zukunft verlieren, warum sie sich verunsichert und alleingelassen und schutzlos fühlen.

Das heißt also, daß die auf Egalität und Mangel gegründete Ordnung zerstört wird - aber welche neuen Strukturen treten dann an die Stelle der alten?

Eine neue Hierarchie, neue Strukturen sind nicht im Entstehen. Und das in einer Gesellschaft, die mit ihren Widersprüchen nicht leben kann, nicht eimal offen darüber spricht. Eine Marktökonomie kann es dort nicht geben, wo kein Bewußtsein davon existiert, daß Ungleichheit etwas Normales ist.

Auf dem chinesischen Weg

zum schwedischen Sozialismus

Die Idee der Ungleichheit ist so fundamental und gehört genauso zu den Errungenschaften der Zivilisation wie die Idee der Freiheit. Die Gesellschaft hat heute drei „Feinde“: den Parteiapparat, die Kooperativenleute und die Handelsmafia. Auch das gehört zur Unerträglichkeit des Mangelsystems der Verteilung.

Angenommen, man führte heute mit Gewalt den Markt ein. Würden dann die Feinde verschwinden? Dann wird der Kulak, der Eigentümer und Genossenschaftler der Feind sein. Oder täusche ich mich?

Ganz richtig. Es fehlt die Motivation zum persönlichen Erfolg, oder sie ist nur sehr schwach. Das ist das Entscheidende. Daher verläßt sich die Bürokratie, die sich der Einführung des Marktes widersetzt, zum Teil auf ihren sozialen Instinkt. Sie weiß: Wenn man jetzt den Markt einführt, dann wird es ein Chaos geben. Mit dieser Angst spielt der Apparat heute ohne Zweifel. Damit will man die Umorientierung auf andere Werte blockieren.

Welche Auswege gibt es dann?

Das ist schwer zu sagen. Es gibt keine Wege. Es gibt die fanatischsten Ideen. Die populärste Losung ist „Auf dem chinesischen Weg zum schwedischen Sozialismus“. Das heißt, man will mit autoritären Methoden zu einer liberalen Wirtschaft.

Die Völker in Osteuropa, die derzeit die sozioökonomische Krise überwinden wollen, sind vorbehaltlos für die Marktwirtschaft. Weitaus mehr Schwierigkeiten haben sie mit der Legitimierung der sozialen Ungleichheit, mit dem Risiko, das durch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt erzeugt wird, und schließlich mit der extremen Arbeitsintensität, die in den entwickelten Ländern herrscht. Wie steht es mit diesem „sozialistischen Komplex“ in der UdSSR?

Wie ich schon gesagt habe, der Staat hat immer außerhalb der Ökonomie existiert. Die Bürokraten haben niemals die Frage gestellt, wieviel der Unterhalt der Armee oder die gigantischen Großprojekte kosten. Die Bevölkerung ihrerseits hatte keine Ahnung davon, was sie leisten kann. Daher ist die Vorstellung allgemein: Man muß nur energisch genug etwas forden, dann kann man schon etwas „herausschlagen“.

Das ganze Leben der Gesellschaft folgt nicht der Ökonomie, ist nicht rational. Das Mißtrauen gegen die Macht ist allgemein geworden, doch ein Gefühl, daß es eine Krise der Ökonomie gibt, ist ziemlich schwach. Dieses Gefühl ist in den Hauptstädten weitaus stärker entwickelt: Je höher Bildungs- und Wohlstand, desto größer ist die Unzufriedenheit. An der Peripherie leben die Menschen zufriedener.

Man bekommt oft zu hören, alles Übel liege in der schlechten Organisation der Arbeit. Man müßte nur die westlichen Manager hier herbringen, die schlechten Arbeiter entlassen, Bedingungen für den Wettbewerb schaffen, und schon könnte man die Sowjetunion in ein blühendes Land verwandeln.

Bei einer Umfrage, wer als Selbständiger arbeiten wolle, antworteten zehn Prozent der Befragten positiv. 27 Prozent sind bereit, viel zu arbeiten für guten Lohn, auch wenn sie keine Zukunftsgarantien haben. Ungefähr zehn Prozent wollen sich überhaupt nicht anstrengen und sind bereit, sich mit einem niedrigen Lohn abzufinden. 47 Prozent sind mit einem niedrigen, aber festen Lohn zufrieden, wenn ihre Zukunft gesichert ist.

Das heißt, mehr als die Hälfte der Bevölkerung lehnt „bourgeoise“ Werte ab, ist nicht zur „Perestroika“ in ihrer westlichen Variante bereit.

Die sowjetische Bevölkerung hat sich daran gewöhnt, alles vom Staat zu bekommen. Das System ist ein streng distributives. Jeder will besser leben, aber arbeiten sollen die anderen. Man darf nicht vergessen, daß bis heute in der Gesellschaft Loyalität gegenüber der Gruppe der oberste Wert ist und nicht das persönliche und selbstständig erkämpfte Fortkommen. Konformistische Werte rangieren höher als die des individuellen Erfolges. Die „Gemeinschaft“ und nicht die „Gesellschaft“ ist der bestimmende Wertrahmen.

In der „Gemeinschaft“ fehlt das Bewußtsein von der individuellen Autonomie, des Selbstvertrauens. Das Verhalten wird durch Emotion bestimmt. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung hat den Umfragen zufolge keine Feinde. Für einen Soziologen ist das ein Hinweis darauf, daß die unabhängige Persönlichkeit unterentwickelt ist. 56 Prozent machen sich über ihre Lebensgestaltung und ihre Zukunft keinerlei Gedanken. Ungefähr zwei Drittel der Befragten leben einfach jenseits aller „Rationalisierung“ ihres persönlichen Lebens. Mit einem Wort: „West ist West und Ost ist Ost.“

„Und nie kommen sie zusammen.“ Und dennoch: Gibt es nicht irgendwelche Ideen, die Hoffnung geben, daß es einen konstruktiven Ausweg aus der Krise gibt?

Es gibt keine solchen Ideen. Und dafür trägt die intellektuelle Elite die Verantwortung. Sie ist nicht vorbereitet, nicht reif. Sie hat angefangen, um die Macht zu kämpfen, ohne zu verstehen, worin ihre wirkliche soziale Rolle besteht. Außerdem ist es bei einer Organisation des geistigen und kulturellen Lebens, wie wir sie haben, nicht einfach, neue Ideen unter die Leute zu bringen. Die Intelligenzija reproduziert jetzt nur in Riesenauflagen, was vor langer Zeit von den Dissidenten in der Küche ausgearbeitet wurde. Die Küchendiskussionen haben in die Presse Eingang gefunden.

Die „dicken Journale“ leben heute von dem Fundus von Ideen, der in zwanzig Jahren Samisdat-Kultur akkumuliert worden ist. Die Ideen von damals machen die Runde, beherrschen den Diskurs, aber man kommt nicht dazu, sich mit neuen Fragen auseinanderzusetzen. Die intellektuelle Entwicklung ist blockiert oder stagniert.

Dies wird noch verstärkt durch die Zensur, die Kontrolle der Presse. Wir haben es mit einer Modernisierung zu tun, die nach Traditionen stufen muß. Das heißt, die Innovation kann nur dann greifen, wenn sie zur gewöhnlichen Routine wird. Als Innovation im leeren Raum findet sie keinen Rückhalt. Es gibt kein Milieu, das sie annehmen könnte. Die Elite muß zunächst ein Milieu dafür schaffen, daß ihre Gedanken auch rezipiert werden können, sie braucht Kanäle, auf denen die neuen Informationen sich ausbreiten können.

Heute ist bei uns die Elite mit dieser Arbeit - der Schaffung eines innovationsbereiten und aufgeschlossenen Milieus - beschäftigt und kommt nicht dazu, sich ihrer eigentlichen Aufgabe zu widmen: der gedanklichen Lösung der dringenden Fragen hier und jetzt. In dieser Etappe arbeitet sie nicht als Elite. Im sozialen Sinne ist sie etwas anderes. Diese Schübe und diese Diskontinuität - erst schafft man ein solches Milieu, dann zieht man sich wieder zurück, die Zusammensetzung der Gruppen ändert sich wiederholen sich regelmäßig und bilden einen ganzen Zyklus. Nicht zufällig weisen die Sowjetologen immer wieder darauf hin, daß alles bei uns in zwei Phasen verläuft: erst die Öffnung, dann wieder die Schließung. Wenn man sich die russische Geschichte ansieht, kehren diese Zyklen irgendwie immer wieder.