Die DDR - auf Knien und mit weißer Flagge in die Einheit

Der DDR-Schriftsteller Christoph Hein über sein Land, die Intellektuellen und das Volk  ■ D O K U M E N T A T I O N

Profil: Herr Hein, dieser Tage hat der DDR -Schriftstellerverband auf seinem außerordentlichen Kongreß in Ost-Berlin eine Kommission zur Aufarbeitung der unrühmlichen Verbandsgeschichte und zur Rehabilitierung seiner ausgeschlossenen Mitglieder eingesetzt. Diese Kommission soll sich Einblick verschaffen in die Spitzelakten des Staatssicherheitsdienstes, die über Zensurmaßnahmen und Denunziationen gegen DDR-Schriftsteller Aufschluß geben können. Halten Sie das für den richtigen Weg, um die eigene Geschichte zu bewältigen?

Christoph Hein: Das wird bunt werden. Auf dem Kongreß trat einer auf und sprach dagegen - mit dem Erfolg, daß man ihn selbst für einen Spitzel hielt, der Angst vor Entlarvung hatte.

Es ist bekannt, daß die sogenannten „personengebundenen Akten“, also die Spitzelakten der Stasi gegen einzelne DDR -Bürger, aneinandergereiht an die 100.000 Laufmeter ausmachen - das sind 100 Kilometer. Darin werden nicht nur die bislang anonymen Stasi-Mitarbeiter und -Zuarbeiter identifiziert, sondern auch alle Denunzianten namentlich aufgeführt. Wie soll man sich eine Selbstreinigung des Schriftstellerverbandes vorstellen, die womöglich durch die Offenlegung aller wechselseitigen Bespitzelungen und Denunziationen in der Vergangenheit zustande kommt?

Ich kenne diese Diskussionen schon aus dem Ausschuß, dem ich angehöre und der die staatlichen Übergriffe bei den Demonstrationen vom 7. bis 9. Oktober des Vorjahres zu untersuchen hat, und auch von der Regierungskommission, die jetzt die Stasiakten untersucht. Wir haben hier zur Zeit 16 Millionen Opfer des Stalinismus. Ich denke, wir werden in Kürze 16 Millionen Denunzianten haben, und wir haben in Kürze vierzig Jahre lang Prozesse zu führen.

Hieße das nicht, das Grundvertrauen für jedes gesellschaftliche Zusammenleben zerstören?

Dadurch wird nicht nur die Vergangenheit noch im nachhinein vergiftet. Es wird durch Argwohn und Mißtrauen auch die Zukunft vergiftet. Wir haben einen Brief an die Regierung geschrieben und diese Problematik aufgezeigt. Aber es gibt im Schriftstellerverband Leute, die da ganz robespierrehaft Einblick nehmen wollen.

Wäre es nicht klüger, diese Akten zu vernichten oder wenigstens zu verschließen, als sie überhaupt zu lesen?

Einerseits spricht viel dafür, diese Akten aus geschichtlichen Gründen aufzubewahren, aber das Material zu verschließen. Andererseits höre ich, daß in den Spitzelakten praktisch jeder Name drinsteht - als Opfer wie als Täter. Da wird die Sache flächendeckend und daher absurd. Wenn dieses Material bekannt wird, dann haben wir Bürgerkrieg.

Würden Sie die Akte Hein lesen wollen?

Nein, ich will's nicht wissen. Wenn sich nun rausstellt, mein Nachbar hat mich bespitzelt? Wie soll ich mit dem umgehen? Muß ich womöglich wegziehen, weil ich den nicht mehr ertragen kann? Außerdem muß es nicht einmal stimmen. Es ist vielleicht nur eine Verleumdung. Aber dennoch würde der Stachel sitzen.

In der letzten Zeit war viel die Rede von einer Entfremdung zwischen den Künstlern und dem Volk in der DDR. Die Künstler hätten wegen zu geringen Widerstandes gegen die Staatsmacht ihren Kredit bei der Bevölkerung verloren. Besonders die DDR -Autoren stünden da unter einem starken Rechtfertigungsdruck, hieß es. Stimmt das überhaupt?

In den westlichen Zeitungen lese ich von einer Kluft zwischen den Intellektuellen und dem Volk. Davon ist hier im Lande nichts zu registrieren. Meine persönlichen Erfahrungen sind ganz andere.

Nämlich?

Ich messe das an der Leserpost, die seit Oktober solche Ausmaße angenommen hat, daß ich mich kaum drei Tage wegzufahren traue. Ich sehe mich einem unübersehbaren Briefberg gegenüber. Das Gewicht der Intellektuellen nimmt in dem Maße zu wie die Ratlosigkeit der Gesellschaft. In all diesen rationalen und irrationalen Ängsten wendet man sich um Orientierung verstärkt an die Intellektuellen. Man wendet sich an die paar Figuren, die man glaubt, befragen zu können. Ich hatte eigentlich gehofft, diese Rolle nach den Oktober-Ereignissen verlassen zu können.

Wer gehört denn außer Ihnen noch zu diesen paar Figuren? Christa Wolf?

Christa Wolf und ich sind nicht die einzigen, die da in die Pflicht genommen werden.

Auch Heiner Müller?

Heiner Müller hat sich mit Erfolg dem etwas entzogen.

Weil er einen Zynismus an den Tag legt, an dem alles abprallt?

Ja. Das hat wirkliche Vorteile für ihn gebracht - er kann sich weitaus besser der Literatur widmen.

Sie sind also so etwas wie eine moralische Instanz in der DDR geworden?

Ich habe das immer nur als eine Zusatz- oder Ersatzfunktion gesehen, die wir da einbringen mußten. Die Kirche hat als Moralinstanz im 20. Jahrhundert weitgehend versagt und an Bedeutung generell verloren. An ihre Stelle sind weltweit die Medien getreten, aber deren Anspruch auf Wahrheit fehlte in der DDR. Da mußten zwangsläufig Intellektuelle, vor allem Schriftsteller, in diese Rolle treten.

Da haben also die DDR-Schriftsteller als öffentliches Korrektiv die Rolle der Journalisten mitübernommen?

Ja. Ich habe diese Rolle immer kritisiert, um bewußtzumachen, daß dies nur eine Ersatzfunktion sein kann, die der Literatur nicht bekömmlich, sondern abträglich ist. Ich wußte aber zugleich, daß das Publikum an dieser öffentlichen Funktion der Schriftsteller, weil sie lebensnotwendiger war, auch dringender interessiert ist als an der puren Literatur.

Also keine Rede von einer Entfremdung zwischen dem Volk und seinen Dichtern?

Das ist ein uraltes Lied. Das haben die westlichen Literatur-Wächter ja nicht erfunden. Die Formulierung „vom Volk entfremdete Intellektuelle“ ist urheberrechtlich geschützt, sie stammt von Stalins Generalstaatsanwalt Wyschinsky, der mit dieser Formel in den dreißiger Jahren die Leute hinter Gitter brachte. Und der DDR-Chefankläger Melsheimer hat 1957 dem Schriftsteller Walter Janka nach derselben Formel den Prozeß gemacht. Und als nun Kurt Hager, unser Kulturpolitchef, abgeschafft wurde, da ahnte ich es doch, daß diese Figur und Funktion des Intellektuellenjägers bald wieder besetzt sein würde.

Geist- und Intellektuellenfeindlichkeit ist ja nicht abhängig vom jeweiligen Regime.

Nein. Aber in deutschsprachigen Landen ist sie schon stärker als anderswo. Beim deutschen Volk, das sich merkwürdigerweise auch noch das Volk der Dichter und Denker nennt, ist sie schon besonders virulent.

Welche politische Prognose stellen Sie der DDR?

Die Selbständigkeit der DDR ist hier verludert und vertan worden - und nicht durch die Schuld Westdeutschlands. Dieses marode System hier hat keine Chance, aufrecht und mit Würde eine Vereinigung herbeizuführen. Es wird deshalb auch kein Agreement geben, sondern eine Übernahme durch die BRD. In der DDR ist von Selbstbehauptung gar nicht die Rede. Da geht es um die Übergabe an die BRD - auf den Knien und mit der weißen Flagge. Und ich denke, mit der deutschen Einigung mit allen dazugehörigen oder nicht dazugehörigen Teilen ist auch die Idee des europäischen Hauses gestorben. Ich glaube nicht, daß Frankreich oder England bereit sind, in dieses Haus einzuziehen, wenn es ein deutsches europäisches Haus wird.

Mit Hein sprach Sigrid Löffler.

Gekürzt aus: 'Profil‘ (Wien), Nr. 11 (12.März 1990)