Augen zu und durch - ein Rückblick auf den Wahlkampf

Die bundesdeutschen Wahlkampfstrategen und Werbemanager hatten in der DDR leichtes Spiel. Es war gar nicht nötig, die Besten hinzuschicken, für die offenen Ohren und die begierigen Herzen der DDR-Bürger taten es auch Anfänger. Ein paar bunte Fähnchen und Luftballons, Plastiktüten oder Sticker, schon der kleinste Tupfer sorgte in den Städten nach 40 Jahren realgrauem Sozialismus für Aufmerksamkeit. Dem hatte die DDR nichts entgegenzusetzen. Selbst die einzige Partei, die ohne West-Unterstützung Wahlkampf machte - Gregor Gysis PDS-, ließ peppige Sticker mit amerikanisierten Slogans verteilen. Doch die großen Materialmassen wurden nur über die Städte ausgeschüttet. Schon wenige Kilometer außerhalb Berlins oder Leipzigs fand man kaum einen Hinweis darauf, daß die Jahrhundertwahl anstand. Die selbstgemachten grauen, kleinen Wahlzettel von Ortsgruppen, die nicht mit großflächigem Buntem versorgt worden waren, fielen kaum auf.

Die DDR hat keinen Wahlkampf gemacht, die DDR wurde „gewahlkampft“. Die Straßen und Plätze der Republik waren für die Dauer von Wochen enteignet. Ganze Rollkommandos kamen aus dem Westen, verteilten Werbezettel und klebten Plakate. Die Freude des Novembers wurde kanalisiert, schlug um ins Fanatische.

Der Westen importierte mehr als Papier und verursachte mehr als Müll. Die zum Teil extreme Links-rechts-Polarisierung, die sich seit Dezember entwickelte und auf den Montagsdemos in Leipzig ans Licht kam, wurde angeheizt und argumentativ gefüttert von West-Politikern. Die Unterschiede zwischen den Parteien, vor allem zwischen SPD und der Allianz, können nur aus der Geschichte der West-Parteien begründet werden. Die Ost-Politiker - Statisten ihrer eigenen Geschichte - lernten ihre Rolle holprig auswendig. Damit wurde einerseits der Versuch eines Konsenses, eines gemeinsamen Weges der Menschen in der DDR verunmöglicht, andererseits die Chance verpaßt, eine aus der Geschichte der DDR entsprungene Vielfalt und Kontroverse zu entwickeln. Der Wahlkampf hat bewirkt, daß zumindest an der Oberfläche die Parteienlandschaft der DDR ein Abziehbild der bundesdeutschen geworden ist.

Aber nicht nur kein eigenständiges Parteien- und Gruppengefüge konnte sich entwickeln, der Wahlkampf hat auch eine neue politisch-demokratische Kultur verhindert. Der aufgezwungene Zeitdruck hat eine Augen-zu-und-durch -Mentalität hervorgebracht. Andersdenkende, diejenigen, die kritisch nachfragen, den Finger auf offene Wunden legen, lösen Haßausbrüche aus, sollen weg. Meinungsfreiheit, dieses elementare Stück des so heftig gewollten Grundgesetzes, war der Menge auf dem Platz völlig fremd. „Rote aus der Demo raus“ ist zur Standardparole geworden.

Diese Geisteshaltung ist aber keineswegs an eine bestimmte parteipolitische Ausrichtung gebunden. Die kleine Kundgebung der „Allianz“ am letzten Freitag in Ost-Berlin versuchte eine Gruppe von PDS-Anhängern aufzumischen. Alle Parteien haben sich gegenseitig die Wahlplakate abgerissen und überklebt. Auch das Neue Forum in Leipzig nahm nicht die leere Wand, sondern das Plakat der DSU als Unterlage. Aber auch die DDR-Politiker tun sich schwer mit der Öffentlichkeit, namentlich mit den fragenden Journalisten. Die so viel beklagte Gleichschaltung unter der Fuchtel der SED möchten viele am liebsten beibehalten - eben im Sinne ihrer Gruppierung oder Partei. Schuld an der Verunsicherung der DDR-Bürger, an ihrer Angst vor den sozialen Folgen der Wiedervereinigung, sind in ihren Augen die Journalisten. Weil sie „verzerren“, „unvollständig wiedergeben“ usw. Informationen über Personen werden zu „Schlammschlachten“ und „Schmutzkampagnen“. Wer glaubt, jetzt schon auf bundesdeutsche Medien Einfluß zu haben, nutzt ihn: Der DSU -Chef Wilhelm Ebeling, Pfarrer in Leipzig, beschwerte sich beim Intendanten des ZDF über den Journalisten, der in einem Beitrag für Kennzeichen D, aller Welt erzählt hat, daß des Pfarrers Kirchentüren vor dem 9. November für Oppositionelle geschlossen waren. Schlechte Perspektiven für die Pressefreiheit.

Es gibt aber auch die Kehrseite. Im Fernsehen der DDR, in den Wahlsendungen und selbst in den Werbespots der Parteien und auf kleinen Versammlungen zeigen sich zwischen den Parteien erstaunlich viele Zwischentöne oder gar Übereinstimmungen. Man merkt, da sitzen welche, die machen nicht Wahlkampf gegeneinander, sondern diskutieren in für West-Ohren ungewohnt langatmiger Weise über die Probleme. Von weit links bis hin zur CDU und - seit Wolfgang Schnur als Spitzenkandidat das Handtuch geworfen hat und Rainer Eppelmann dem Demokratischen Aufbruch vorsitzt - bis zum DA sind viele wirtschaftlichen und sozialen Fragen Konsens. Einzig die DSU bricht aus und bemüht sich krampfhaft um wahlkampftaktisches Profil. Der letzte Versuch des DSU -Mannes Ebeling in seiner Heimatstadt und (scheinbaren) Hochburg seiner Partei, Leipzig, mißlang. Er mußte sich vom Publikum einer Live-Sendung ins Kreuzverhör nehmen lassen. Vielleicht haben wir alle uns vom Tenor der Montagsdemonstration täuschen lassen.

Brigitte Fehrle