Abwahl der DDR

Zum Ausgang der DDR-Wahl  ■ K O M M E N T A R

Nun kann man sich streiten, nachdem man sich vom ersten Schock erholt hat: War das eine Abwahl der DDR oder eine Wahl Kohls? Sauber lassen sich beide Motive gewiß nicht trennen. Aber eines ist sicher, den triumphalen Sieg hat sich nicht die der SED 40 Jahre devot ergebene „Blockflöte“ CDU-Ost hereingeholt. Das war der Erfolg der Bonner CDU und

-dies vor allem - der Erfolg von Kohls Taktik. Er hat sich im Wahlkampf für den Anschluß, für die Teilhabe der DDR -Bürger am westlichen Wohlstand, für das Versprechen von der Erlösung vom Dasein eines Deutschen zweiter Klasse verbürgt. Ganz gleich, ob alle CDU-Wähler diesen Versprechungen wirklich glaubten: Diese Chance wollten sie sich offensichtlich nicht entgehen lassen. Eine Mehrheit der DDR -Wähler wollte Gleichheit jetzt - und sei es nur als Garantie von materiellen Symbolen der Gleichheit. Als Videorecorder, als Mittelklassewagen und nun auch als eine CDU/FDP-Regierung wie im Westen.

Dennoch ist das Ergebnis erschreckend. Alle Parteien, die sowohl DDR-Selbstbewußtsein und Demokratisierung als auch eigenständige Interessenvertretung und einen Prozeß der deutschen Vereinigung mit dem Anspruch der Parität vertreten haben, haben verloren. Die gestern gewählte Regierungsmehrheit ist für die Vertretung der Interessen der DDR, von denen der Mieter bis zu denen der LPG-Bauern, sicher die schlechteste. Aber: Für die Mehrheit geht es offenbar nicht mehr um Vertretung von DDR-Interessen, sondern um den Glauben, sich nun als freies Subjekt auf dem freien Markt entfalten zu können. Eine kollektive Phantasie von Gründerzeit und Goldgräberstimmung durcheilt die DDR. Alle, die in jenem sozialgesicherten Treibhaus zwischen Kommandowirtschaft und privatem Organisieren dem Lebensglück hinterherjagten, wollen nun ihre Kräfte ausprobieren. Insofern haben die DDR-Wähler radikal frei gewählt.

Sie haben sich aber auch unter die Kuratel der Bundespolitik gestellt. Kohl hat die Alternative DDR oder Deutschland, Misere oder Einheit, Zusammenbruch oder schneller Anschluß vertreten. Die Mehrheit hat diese scheinbare Alternative angenommen. Aus Angst oder durch Unterdrückung von Ängsten - wie auch immer. Kohl hat erfolgreich polarisiert. Aber er steht im Wort, buchstäblicher als der Wahltaktiker es heute wohl glaubt. Die Mehrheit hat ihn beim Wort genommen. Sie haben auch geglaubt, daß das westliche Kapital, die sozialen Garantien, der ganze Wohlstand auf sich warten läßt, wenn die Regierung Kohl mit einer Linksregierung verärgert wird. Das zeigt, wie sehr noch die Erbschaft von vierzig Jahren Realsozialismus regiert: der Glaube, daß eine Regierung auch über die gesellschaftlichen Kräfte verfügen kann, der Glaube, daß Kohl der oberste politische Ausdruck des westdeutschen Kapitals ist. Dieses monolithische Staatsverständnis wird der Bundesregierung, die in den letzten Tagen auch zu verstehen gegeben hat, daß der Weg zur Einheit Etappen haben muß, noch zu schaffen machen. Es ist gut möglich, daß der Jubel über die große CDU-Mehrheit sehr bald in die Wut der Enttäuschten umschlagen kann. Auf jeden Fall wird die innenpolitische Spannung im Wahljahr 90 zunehmen. Der Streit um die Deutung des DDR-Wahlergebnisses hat schon begonnen.

Die SPD konnte sich gegen die Kohlschen Alternativen nicht behaupten. Sie war letztendlich die Partei, die nur noch negativ als eine Partei der Einheit für später dastand. Nach der Oktoberrevolution hat eben die DDR-Krise alle erfaßt (was der Revolution nicht gelang); die SPD ist vom alten deutschen Schicksal ereilt, daß in der Krise rechts gewählt wird. Sie war eben nicht die Stärkere, zu der man sich flüchtet. Die nationale Tradition der Arbeiterbewegung, auf die die SPD setzte, ist nach vierzig Jahren DDR ohnehin verblaßt. Noch ungerechter traf es die Partei der Revolution, das Wahlbündnis 90. Es ging - und das ist die wirkliche Tragik der Wahl - in dem Feld der Polarisierung unter. Wer meinte, in der DDR gebe es noch etwas zu verteidigen, wurde durch den Polarsierungsdruck wohl eher zur PDS gedrängt. Und das ist die zweite Sensation: neben der CDU gehört die PDS zu den Siegern. Sie hat ihr Wahlziel erreicht: eine starke Opposition zu werden. So ist denn das Ergebnis ironisch genug. Die Parteifigurationen, die der demokratische Aufstand hervorgebracht hat, sind die Verlierer - auch die „Allianz für Deutschland“. Der „Demokratische Aufbruch“, wohl ein Schnur-Effekt, hat verloren. Der absolute Sieger dieser Wahl sind die alten Blockparteien, CDU und PDS/SED. Die DDR geht unter, es lebe die „Nationale Front“.

Klaus Hartung