„Was haben wir von der Vereinigung?“

■ Offener Brief an die „Deutschen in der Bundesrepublik“ / Der niederländische Journalist Martin van Amerongen fordert ein Mitspracherecht der „kleinen Länder“ Westeuropas bei den Verhandlungen um die deutsche Vereinigung

Werter Nachbar und Bündnispartner!

Gestatten Sie mir, daß ich Sie von ganzem Herzen beglückwünsche zu den ersten freien Wahlen auf deutsch -demokratischem Territorium. Möglicherweise wäre es korrekter gewesen, mich unmittelbar an DDR-Politiker wie Rainer Eppelmann oder Ibrahim Böhme zu wenden. Es war aber nunmal an erster Stelle der Wahlkampf westdeutscher Politiker wie Helmut Kohl und Willy Brandt - unter Zuhilfenahme ihrer ostdeutschen Kollegen in der Rolle von Wasserträgern. Betrachten wir doch die Wahl in der DDR als eine Art Generalprobe der deutschen Vereinigung, die nach dem 18.März unabwendbarer denn je geworden ist.

In den Niederlanden kenne ich keinen vernünftigen Menschen, keine Zeitung oder politische Partei, die eindeutig gegen die deutsche Einheit ist. Sicher, auch uns laufen die Ereignisse schlicht davon. Aber Sie irren, wenn Sie glauben, daß wir gegen diese Vereinigung demnächst unsere Stimme erheben werden. Wir, die wir mit größter Genugtuung registriert haben, wie die Mauer fiel, sind mitnichten so inkonsequent, den Ostdeutschen ihre neue Freiheit nicht zu gönnen: daß sie in Kürze, unter westdeutscher Obhut, sagen, denken, loben und mißbilligen dürfen, was sie wollen, ohne daß am nächsten Tag die Stasi vor der Tür steht.

Wehklagen über das anstehende Großdeutschland sind hier, so ist uns durchaus bewußt, deplaziert. Deutschland hat seine expansionistischen Triebe aufgegeben. Was ist denn der Unterschied zwischen einer Nation von 62 Millionen und einer von 78 Millionen, mag manch einer fragen. Eine Differenz von 16 Millionen, spricht der Mathematiker in uns. Philosophisch betrachtet ist das kaum von Bedeutung - außer für Sie, die Sie vor der Aufgabe stehen, eine bankrotte Nation zu renovieren.

Es ist ein aufreibender Prozeß, der im übrigen bei uns nur wenige Leute um ihren Schlaf bringt. Was uns, die Einwohner des europäischen Teilstaates Niederlande, vor allem an der deutschen Vereinigung interessiert, verläuft auf treffliche Art und Weise parallel zu den Gefühlen des durchschnittlichen DDR-Bürgers: Wir vertiefen uns in die Frage, was wir davon haben werden. In den vergangenen Monaten ist in der niederländischen Presse nur ein Artikel mit besorgtem Unterton erschienen, in dem konservativen 'NRC -Handelsblad‘, dem Sprachrohr der Börse und Hafenbarone. Er trug die apokalyptische Überschrift: „Bedrohung aus dem Osten“. Die Bedrohung, so stellte sich heraus, betraf den Zinssatz, nicht die bösen Deutschen, die sich wiederum bereitmachten, sich den Rest Europas einzuverleiben.

Ich bin so frei, Ihnen neben meinem aufrichtigen Glückwunsch einen partnerschaftlichen Rat zu geben. Legen Sie im Umgang mit Ihren 16 Millionen neuen Landsleuten doch etwas mehr Taktgefühl an den Tag. Bereits heute weckt Helmut Kohl, Ihr nationaler Leopardpanzer, den Eindruck, eine ausgeblutete und abgewirtschaftete DDR einfach aufzukaufen. Allein psychologisch betrachtet ist dies unklug: Es muß für den Durchschnitts-DDR-Bürger ein unerträglicher Gedanke sein, sein Leben lang falschen Götter gedient, seinen Kindern die falschen Wahrheiten gelehrt, aus falschverstandenem Idealismus in diesen lächerlichen Trabis gefahren - schließlich vierzig Jahre einfach ins Wasser geworfen zu haben. Immerhin läßt sich von den Deutschen in der DDR auch Einiges lernen: ihre protestantische Ernsthaftigkeit z.B., die angenehm kontrastiert mit der katholischen Schlampigkeit, wie sie bei Ihnen in Teilstaaten wie Baden-Würrtemberg praktiziert wird. Und auch ihr preußisches Gefühl für Fleiß und Pflichtauffassung. Diese Sorte von Deutschen ist uns, im übersensiblen Ausland, weit lieber als die andere Sorte, diese harten, kapitalistischen Großverdiener, die immer um einige Dezibel zu laut die falschen Sachen vertreten. Exportiert in die DDR, was Ihr wollt - Erbsen, Rüben, 'Die Zeit‘ und die 'Süddeutsche Zeitung‘, aber versucht doch diesen Mann, Euern Kohl, im Interesse eines friedlichen und sicheren Europas, in Zaum zu halten. Es muß einen anderen, bedächtigeren Weg zur deutschen Einheit geben als einen „Anschluß“. Ein wenig Zurückhaltung braucht weder einem Hinzukommen der DDR zur Europäischen Gemeinschaft noch einer Wirtschafts- und Währungsunion der beiden Deutschlands im Wege zu stehen.

Übrigens, wir, das interessiert zuschauende Ausland, würden es begrüßen, wenn wir bei den jetzt laufenden Verhandlungen einbezogen würden. Namentlich Sie, die Westdeutschen, haben uns das Vereinigte Europa geradezu in den Hals geschoben; so daß wir meinen, ein Recht darauf zu haben, mitzureden, wenn es um die Vereinigung ihrer eigenen Nation geht. Um so mehr, da es so aussieht, daß Sie im Vereinigten Europa auch wieder die erste Geige spielen werden. Dafür schon im voraus unseren herzlichen Dank. Und zu Ihrer Information: Unser Außenminister heißt Hans van den Broek, meistens erreichbar in seinem Ministerium in Den Haag. Mit partnerschaftlichem Gruß, Ihr

Martin van Amerongen

Der Autor ist Chefredakteur des 'Groene Amsterdammer‘, der einzigen überregionalen linken Wochenzeitung in den Niederlanden