Nur in kleiner Zahl willkommen

 ■  Aus New York Henryk M. Broder

„Unter den Juden in der Sowjetunion macht sich Panik breit“, sagt Ken Jacobsen, ein Topmann der „Anti Defamation League“ und soeben von einer Reise in die UdSSR zurück, „der Antisemitismus wird von Tag zu Tag stärker.“ Und Arthur Hertzberg, Rabbiner, Professor für Geschichte und Vizepräsident des World Jewish Congress, sagt: „Im Zeitalter der Perestroika geht es den Juden in der SU noch schlechter als vorher. Mit dem regierungsamtlichen Antisemitismus ist es seit Gorbatschow vorbei. Dafür erwacht der alte russische Nationalismus nach 70 Jahren wieder zu neuem Leben. Und zu seinen Eigenarten gehört auch der Antisemitismus. Die Juden in der SU fürchten, daß es bald wieder zu Pogromen kommen wird. Sie wollen raus, so schnell wie möglich.“ Die sowjetischen Juden sehen sich nicht nur mit den für sie eher gefährlichen Folgen des innenpolitischen Tauwetters konfrontiert, auch das Ende des kalten Krieges ist für sie nicht unbedingt ein Segen. „Die Amerikaner verstehen sich heute mit den Sowjets besser als mit den Deutschen oder den Japanern“, meint Hertzberg, „und deswegen wollen sie die Russen nicht mit Anklagen verärgern. Die Juden in der Sowjetunion gelten daher nicht länger automatisch als potentielle Asylsuchende, ein sowjetischer Jude ist nicht mehr Flüchtling von Natur aus. Die Anträge werden jetzt viel genauer geprüft, es gelten strengere Maßstäbe. Wir haben es mit einem Paradox zu tun: Der Politik von Gorbatschow nach zu urteilen, werden die Juden nicht mehr verfolgt, aber was in der sowjetischen Wirklichkeit unter dem Vorzeichen der Pamjat-Bewegung passiert, ist noch schlimmer, macht den Juden noch mehr Angst. Und deswegen sind sie bereit, sogar nach Israel auszuwandern, in ein Land, von dem die meisten nichts wissen...“

Den meisten Juden, die die UdSSR verlassen wollen, wird nichts anderes übrig bleiben. Die Vereinigten Staaten, unter den jüdischen Emigranten schon immer Wunschland Nummer eins, haben mit Wirkung vom 1.10. 1989 die Regeln für die Aufnahme von Flüchtlingen neu formuliert. Es werden im Laufe dieses Jahres rund 120.000 Flüchtlinge aus der ganzen Welt aufgenommen werden, davon werden 50.000 aus der UdSSR kommen, und von diesen werden 40.000 Juden sein. Zugleich wurden die Modalitäten der Aufnahmeprozedur geändert. Konnten die Juden bisher mit einem israelischen Visum die UdSSR verlassen, und dann in Wien oder Rom einen Antrag auf Aufnahme in den USA stellen, so müssen sie die nötigen Formalitäten nun in der US-Botschaft in Moskau erledigen. Gleich im Oktober 1989 wurden die ersten 200.000 Aufnahmeanträge gestellt.

„Die sowjetischen Juden haben die Wahl: Sie können auf ein US-Visum warten, oder sie können sofort nach Israel auswandern“, sagt Ken Jacobson von der Anti Defamation League, „wir sind mit dieser Regelung zufrieden...“ Es handle sich um eine „großzügige und auch faire Maßnahme der US-Administration“, meint auch Gary Rubin vom American Jewish Committee; die Zahl der jüdischen Flüchtlinge aus der UdSSR sei nicht beschränkt, sondern nur festgelegt worden. Mit 40.000 pro Jahr sei die Quote viel höher als in allen vorausgegangenen Jahren, die „displaced persons“, die nach dem Krieg aufgenommen wurden, ausgenommen. In den letzten Jahren hätten so wenige sowjetische Juden das Land verlassen dürfen, daß eine formale Regelung dieser Frage nicht nötig gewesen sei. Das Problem habe sich erst im Jahre 1989 gestellt, als plötzlich über 38.000 Juden aus der UdSSR in den USA ankamen. Im Jahr zuvor seien es erst 10.000 gewesen, und das war, verglichen mit den Vorjahren, bereits eine Rekordziffer. „Irgendwie muß der Strom der Flüchtlinge kanalisiert, müssen die vorhandenen Mittel gerecht verteilt werden“, sagt Elan Steinberg vom World Jewish Congress, „uns kam es darauf an, den jüdischen Flüchtlingen einen angemessenen Anteil an der Gesamtquote zu sichern. Mit 40.000 von 120.000 Plätzen sind wir gut bedient worden.“

„Freilich“, sagt Steinberg im selben Atemzug, es hätten auch noch „andere realistische Überlegungen“ eine Rolle gespielt. Die Aufnahme von 40.000 Menschen kostet Millionen von Dollars, und außerdem gibt es ja noch den Staat Israel, der genau für diesen Zweck geschaffen wurde. Von einem „philosophischen Standpunkt aus betrachtet“, könne von „jüdischen Flüchtlingen so lange keine Rede sein, wie es den Staat Israel gibt“. Gewiß, jeder müsse die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, wo er leben möchte, nur: „Können wir es als Zionisten verantworten, den Juden zu helfen, aus einem Land der Diaspora in ein anderes zu ziehen?“

Phillip Saperia von HIAS, dessen Organisation die Emigranten in Rom und Wien und nach der Ankunft in den USA betreut, stellt sich die Frage ein wenig anders. „Unsere wichtigste Aufgabe ist es, den Juden zur Freiheit zu verhelfen, und so gerne wir es sehen würden, daß sie nach Israel gehen, so wenig sind wir bereit, diesen Menschen irgendeine Entscheidung aufzudrängen.“ Saperia gibt zu, „daß einige von uns mit der neuen Regelung mehr, einige weniger zufrieden sind, öffentlich sagen wir ja, privat denken manche anders“, unter den gegebenen innenpolitischen Bedingungen habe man einen „vernünftigen Kompromiß“ erzielt.

Off records, bei abgeschaltetem Mikrofon und gegen das Versprechen, namentlich nicht genannt zu werden, äußern sich manche Funktionäre der großen jüdischen Organisatoren etwas kritischer. Sie berichten von dem Druck, den Israel auf die US-Regierung ausgeübt habe, die sowjetischen Juden überhaupt nicht als Flüchtlinge anzuerkennen, die USA sollten möglichst wenige und am besten gar keine Juden aus der UdSSR aufnehmen. „Ich habe keinen Zweifel, daß irgendein Deal zwischen Israel und den USA geschlossen wurde“, sagt ein Insider. „Ich weiß nicht, ob es ein formaler Deal war oder nur eine Art Handschlagabkommen. In jedem Fall war Israel hinter den Kulissen sehr aktiv.“ Ein anderer Funktionär meint, Israel wäre es lieber, wenn die Juden in der UdSSR blieben, statt daß sie in die USA kommen, wenn sie nicht nach Israel kommen möchten...

So kommt es, daß die in der Tat ziemlich großzügige Regelung der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus der UdSSR alle Beteiligten unbefriedigt läßt. Die jüdischen Organisationen, die sich unabhängig von ihrem eigentlichen Daseinszweck fast alle um die sowjetischen Juden kümmern, fürchten, daß sie nicht genug erreicht haben, wollen aber nicht mehr verlangen, um die Juden gegenüber den anderen Asylanten nicht überprivilegiert erscheinen zu lassen. Israel, kaum in der Lage, die Neueinwanderer, die aus Rußland und nicht aus Überzeugung kommen, mit dem Nötigsten zu versorgen, möchte alle aufnehmen, die ausreisen dürfen, um mit ihnen die besetzten Gebiete zu besiedeln, eine Wahnidee, die Premier Schamir kürzlich ebenso freimütig wie leichtfertig offenbart hat. Und die Juden in der UdSSR, die im Westen so lange als Helden gefeiert wurden, wie sie das Land nicht verlassen durften, müssen nun lernen, daß sie nur in kleiner Zahl unbegrenzt willkommen sind, in großen Mengen dagegen ein Problem bilden, das man sich am besten vom Hals hält. In New Yorker Synagogen wurden Flugblätter verteilt, in denen die amerikanischen Juden aufgefordert wurden, sich in Briefen an den US-Präsidenten, den US-Außenminister und den sowjetischen Botschafter in Washington für die freie Auswanderung der sowjetischen Juden einzusetzen - nach Israel.

In dieser Situation, die so absurd ist, wie es nur eine jüdische Geschichte sein kann, haben die sowjetischen Juden einen Verbündeten gefunden, mit dem sie ganz sicher nicht gerechnet haben. Edward W. Said, Politik-Professor an der Columbia University, Palästinenser mit US-Paß und seit 1977 Mitglied des Palästinensischen Nationalrates, hat in einem Artikel in der 'New York Times‘ gefordert, die USA müßten ihre Tore für die jüdische Einwanderung weit öffnen. Für eine Macht, die sich gegenüber den Juden im Zweiten Weltkrieg schon einmal kleinlich verhalten hat, so Edward W. Said, wäre es „gewissenlos, noch einmal dieselbe Gangart einzuschlagen“.