Moskau droht - Vilnius bleibt gelassen

■ Nach der litauischen Unabhängigkeitserklärung will die sowjetische Regierung ihre Großbetriebe schützen / Litauen will in Ruhe nach friedlichen Lösungen suchen / Vorerst keine Veränderung der Eigentumsverhältnisse geplant / Proteste der russischen Minderheit

Berlin (taz/afp) - Mit einer Reihe außerordentlich scharfer Sicherungs- und Kontrollmaßnahmen hat die sowjetische Regierung auf die Weigerung Litauens reagiert, seine Unabhängigkeitserklärung zurückzunehmen. Die zuständigen sowjetischen Ministerien wurden beauftragt, die Verfügungsgewalt über die von der sowjetischen Zentrale geleiteten Großbetriebe „sicherzustellen“. Damit solle verhindert werden, daß Statut und Funktionsweise der sowjetischen Betriebe einseitig verändert würden.

Die sowjetische Regierung befürchtet offenbar die Nationalisierung dieser Betriebe durch Litauen bzw. - im Fall der übelsten Umweltverschmutzer - deren Stilllegung. In die gleiche Richtung geht die Aufforderung an die litauischen Behörden, den Schutz der AKWs zu verstärken. Moskau verlangt außerdem, daß das sowjetische Zollsystem auf litauischem Boden respektiert wird und daß die Verkehrsverbindung zur sowjetischen Enklave Kaliningrad aufrechterhalten wird. Das Gebiet Kalingrad, das heißt der frühere nördliche Teil Ostpreussens, hat keine direkte Landverbindung mit der russischen Föderation. Außenminister Gerassimow hat am vergangenen Montag auf einer Pressekonferenz erklärt, Litauen solle abwarten, bis die Volksdeputierten das neue Unionsgesetz verabschiedet hätten. Im Entwurf dieses Gesetzes ist ein - sehr kompliziertes und langwieriges - Verfahren zum Austritt aus der Union vorgesehen.

Gegenüber solchen Aufforderungen besteht Litauen darauf, daß im Fall der baltischen Staaten von einem Austrittsverfahren keine Rede sein könne, denn sie seien 1940 gewaltsam annektiert worden. In einer Stellungnahme zur Erklärung der Sowjetregierung war der litauische Präsident Landsbergis bemüht, die Sowjets zu besänftigen. Er betrachte den von der sowjetischen Führung verhängten Maßnahmenkatalog als „Anfangsetappe von Verhandlungen“.

Landsbergis machte klar, daß die Verfügungsgewalt über Produktionsmittel auf litauischem Boden dem Völkerrecht nach Litauen zustehe, versicherte aber gleichzeitig, Litauen denke nicht an eine rasche Veränderung der Eigentumsverhältnisse. Mit der Sowjetunion wolle man auch zukünftig ökonomisch eng kooperieren, was die Einhaltung eingegangener Verpflichtungen einschließe.

Der freie Zugang zur Enklave Kaliningrad würde von niemandem in Frage gestellt werden. In Kleipeda (dem alten Memel) und Vilnius hatten am Sonntag und Montag Demonstrationen stattgefunden, die die Unabhängigkeitserklärung verurteilten.

Mehr als Hunderttausend meist russich-stämmige Demonstranten bekundeten in Sprechchören ihren Unwillen, in einer bourgeoisen Republik Litauen leben zu müssen. Das US -State-Department hat litauische Hoffnungen auf eine rasche Anerkennung erneut frustriert. Man wolle, sagte Sprecher Fotzwater, den Konflikt zwischen der sowjetischen Zentrale und den baltischen Staaten nicht schüren. Litauen solle mit Moskau friedlich verhandeln und Moskau solle den Willen des litauischen Volkes respektieren.

Auch in den beiden anderen baltischen Republiken Estland und Lettland, in denen der russische Bevölkerungsteil fast 50 Prozent erreicht, macht die Unabhängigkeitsbewegung Fortschritte. Noch vor der endgültigen Mandatsaufteilung steht fest, daß die für die Unabhängigkeit eintretenden Volksfronten in beiden Ländern bei den Parlamentswahlen die absulute Mehrheit errungen haben.

C.S.