Die Ästhetik der Trümmerfrau

■ Ein Hauch von Bitterfeld in Paris: Herbst-/Winter-Damenmoden von Jean-Paul Gaultier im „Espaces Champs Elysees“

Nur gut, daß Rita dabei war, die kundige Modistin aus Manhattan. Womöglich wäre mir sonst entgangen, daß sich hinter dem dicklichen Stoppelbart Claude Challe verbarg, legendärer Besitzer des nicht weniger legendären „Bains Douches„-Klubs; und dort, blond toupiert und mit Lackleder -Plateausohlen, sollte es wirklich...? Aber ja: Diane Brill ist es, die sich da in der ersten Reihe brüstet, sagenhaftes Accessoire aller Klubs der nördlichen Hemisphäre, allgegenwärtige Diane Brill. „She's doing nothing, she just is“, seufzt lovely Rita und rettet ihr Champagnerglas knapp vor einem anstürmenden Gespinst aus Sonnenbrille, feuerlöscherroten Umhängen und sehr viel Blond „Catherine...!“ Deneuve. Tatsächlich, und dazu noch in einem Modell von Yves Saint Laurent. Catherine, Claude und Diane kurz und gut: Wir sind wieder einmal unter uns. Und wie immer, wenn Jean-Paul seine Show gibt, wird es out of space sein, wie Rita weiß.

„Espaces Champs Elysees“, drei Meter unter gleichnamiger Pariser Straße. Samt klebt rot an Boden und Wänden, buddhistische Tempelgesänge erschallen vom Band, und um uns tobt die Welt: ein japanischer Aufkäufer im Gatsby-Look, ein bezopfter angelsächsischer Jüngling im Jean-Paul-Look des Vorjahres: Nadelstreifen, Sneakers mit offener Lasche und einer Sweatshirt-Kapuze, sowie weitere Exemplare einer high multicultural society, in der stärkere Pigmentierung und Augenfalten nur als besonders ausgefallenes Make-up zur Kenntnis genommen werden - so gut geht es ihr. „Gays, groupies and good friends“, lästert Rita noch über das Publikum, und dann beginnt es auch schon: „Herzlich willkommen zur Jean-Paul-Gaultier-Show 1990“, spricht eine Veloursstimme in fünf Sprachen inklusive Japanisch. Ein Akkordeon verfällt in langgezogene Kadenzen, und da: Ein schüchternes Mädchen läuft gesenkten Hauptes durch die wilde fremde Welt. Heringsgleich bedeckt sie ein silbernes Schuppengewand, darüber ein Parka mit Kaninchenbesatz und an den zarten Füßchen dicke Skinhead -Stiefel. Das Akkordeon hat sich für Moll entschieden, da erscheint ein zweites Model mit Streisand-Mund und nachlässig geflochtenen Zöpfen unter dem Kopftuch. Es schlenkert beide Arme nach vorne, wie es kleine Mädchen tun, wenn sie beobachtet werden, und sieht aus, als hätte es sich schnell mal übergezogen, was gerade zur Hand war: einen Seidenparka über einen enganliegenden Goldschlauch. Die Fotografen auf ihren Leitern schnalzen und schnackeln, um die schüchternen Models ins Objektiv zu locken - vergebens: traurig und verlassen schlendern sie weiter, in ihren Ringel -Wollstrumpfhosen, ihren Hundertwasser-Kappen und einem grauen Filzmantel wie frisch aus dem HO-Alexanderplatz. Und die Models haben Gesichter, keine 'Cosmopolitain'-Masken.

Das Akkordeon wird russophon: Eine graue Kostümjacke erscheint, unter der ein sehr, sehr melancholisches Mädchen

-kein Zweifel, sie muß Römerin sein - eine Joggingjacke trägt, deren Mütze aus dem Kragen ragt. Dazu die viel zu große Hose ihres von Mussolinis Schwarzhemden erschossenen Bruders - wir befinden uns im Nachkriegseuropa, um uns Trümmer, Stille und die Kleider der Toten. Bukarest am Tag danach. Kopftücher, Stiefel, Parkas, schnell übergeworfen, und darunter letzte Reste von Weiblichkeit: Ästhetik der Trümmerfrau.

Im Herbst, bei seiner Haute-Couture-Show, als Frankreich in einer hitzige Debatte über Schleier, Fundamentalismus und Karmeliterklöster steckte, hatte Gaultier seine Modelle mit Nonnenhauben, Tabernakeln, Kruzifixen und Weihrauchschwenkern ausgestattet und dazu gregorianische Gesänge gereicht. Im Herbst/Winter 1990 liegt ein Hauch von Bitterfeld, von Temeswar und Gorki-Magistrale über dem Laufsteg. Grau, laubbraun, selbstgestrickt und hastig zusammengestellt. Wann gab es zum letzten Mal Bauernkopftücher bei einem Pret-a-porter-Defilee zu sehen? Der Schlechtigkeit der Welt gerade entronnen, zu alltagsbeladen, um eitel zu sein und zu skeptisch, um selbst in der Revolte nicht nüchtern zu bleiben - dieser Frauentopos, der vom Fernsehen tagtäglich aus Osteuropa importiert wurde, findet seinen Widerschein bei Gaultiers Entwürfen. Daß die Parkas aus Seide sind und jedes Kleid soviel kostet wie ein Viertürer auf dem Schwarzmarkt von Sofia - geschenkt.

Zweiter Teil der Show. Es ist heiß, und die Rezensentinnen und Rezensenten von 'Mirabelle‘, 'Vogue‘ und 'Elle‘ fächern sich Kühle auf die Schminke. Eine rothaarige Megäre mit Bauchansatz demonstriert ohne falsche Scham ein den Körper betonendes rostrot beflecktes Gewand, darüber ein Parka aus kautschukartigem Material Marke LKW-Schlauch. Anerkennender Applaus, auch von Rita: „Jean-Paul ist ein Genie, weil er keine neuen Formen entwickelt, sondern bestehende neu kombiniert oder in völlig ungewöhnlichen Materialien präsentiert“, flüstert sie aufgeregt. Aha, der Fliegeranzug aus Damast mit bestickter Hippiemütze oder das Musketier -Cape aus echtem Persianer... Die Montagetechnik betreibt man zwar seit Jahren schon - und nicht weniger gekonnt rund um den Kreuzberger Heinrichplatz, aber schön ist es doch immer wieder. Hoppla - da ist ein Model doch über die Lackstiefel von Diane Brill gestolpert - war das ein Gelächter!

Auf zum Finale. Gaultier hat vom Bicentenaire-Spektakel einige Requisiten aufbewahrt. In lila Gardine und Perlenschnüre gehüllt, betritt Marie-Antoinette das Etablissement, und in ihrer turmhohen Perücke glimmt munter eine Glühbirne, die sich wie bei einer Stehlampe an- und ausknipsen läßt. Großartig! Doch dann: eine weitere Hofdame mit einer gaultiertypischen schwarzen Hemdhose. Vorne von Kopf bis Fuß eng und geschlossen, hinten: nichts! Das heißt alles. Feine Fäden von oben bis unten. Die Königin ist nackt unter ihrem Lampenschirm, das Publikum begeistert, und die Fotografen fallen von der Leiter. Hocherhobenen Hauptes verläßt ihre Majestät die Bühne, und ein kleines Männchen mit zu Berge stehenden Haaren erscheint am Arm einer eleganten Greisin: Jean-Paul, der einzige. Ovationen danke, es war wieder - wie soll ich sagen? - out of space.

Defilee war am Freitag, 16.3.

Alexander Smoltczyk