„Die schönen Zeiten sind vorbei“

■ Marginalien zur Leipziger Buchmesse 1990, aufgeschrieben von einem lesenden DDR-Bürger

Lesen macht Spaß“, behaupteten die überall in der Messestadt Leipzig vom Goldmann-Taschenbuchverlag angebrachten Poster. Doch wurde man/frau bei einem Gang rund ums Buchmessehaus am Markt schnell eines anderen belehrt, denn vor das Lesen hatten die Götter den Durst gesetzt. Und der konnte denn auch in den diversen bundesdeutschen Brauereizelten und -kiosken in Leipzigs Zentrum allüberall bis weit nach Mitternacht gestillt werden. Wer wollte da durch Literatur von rund 900 Verlagen aus 21 Ländern abgelenkt sein? So blieb denn auch der erwartete große Ansturm auf die in fünf Etagen präsentierten Bücher aus aller Welt aus. Eher geruhsam ging es im früher rammelvollen Buchmessehaus zu. Kaum Gedränge. Lediglich bei einigen der großen bundesdeutschen Buch-Konzerne herrschte einiger Andrang. DDR -Buchhändler konnten dort, zum Kurs von 1:1 Überraschungspakete mit einem Querschnitt durchs Taschenbuchprogramm ordern, die ihnen mit einem Rabatt von dreißig Prozent portofrei ins Haus geliefert werden und den DDR-Bewohner so auf unkomplizierte Weise mit den überwiegend trivialen Schönheiten internationaler Literatur bekanntmachen. Goldmann zumindest war es zufrieden. Bei anderen, wie dtv und Rowohlt, herrschte dagegen ob solcher Praktiken wenig Freude. Seriös solle es im deutsch-deutschen Buchgeschäft zugehen, hatte man einander geschworen - und nun tanzten einige aus der Reihe.

Das bringt denn auch bei vielen DDR-Verlagen Verstimmung mit sich, denn mehr als ein Buchhändler, egal ob privat, Kommissionär oder (noch) staatlich organisiert, stornierte bereits bestellte Ware, denn die neuen, vielgefragten West -Bücher brauchen Platz im Laden. Der muß geschaffen werden, und so kehrt demnächst manch ein aus DDR-Produktion stammendes Buch nach oftmals langer Irrfahrt durchs Land an seinen Ausgangspunkt, den chaotisch organisierten Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG), zurück, um dort - wie zuvor - in höchst bücherunfreundlichen Depots gelagert zu werden: bis zur neuerlichen Bestellung oder Makulierung.

„Die schönen Zeiten sind vorbei“, hatte Klaus-Peter Gerhardt, der Direktor des Ostberliner Union Verlages, auf einer improvisierten Pressekonferenz gesagt und damit den derzeitigen Zustand des DDR-Verlagswesens auf einen kurzen Nenner gebracht. Das neue Stichwort „Marktorientierung“ bringt manches Ungeahnte mit sich; denn, so Gerhardt weiter: „Bücher und Autoren machen zuweilen einen Prozeß des moralischen Alterns durch, weshalb DDR-Verlage künftig kaum mehr für die soziale Sicherstellung schreibwütiger DDR -AutorInnen zur Verfügung stehen.“ Diese Neuorientierung geht derzeit ganz rapide vor sich. Verlagsprogramme werden „bereinigt“, um vor allem schnell Absetzbares produzieren zu können, die Mitarbeiterschar (bislang ziemlich umfangreich) wird demnächst reduziert, die Buchpreise werden anziehen und was da an schönen Segnungen der „sozialen Marktwirtschaft“ sonst noch zu erwarten ist.

Da kommt denn schon mal der ziemlich naheliegende Gedanke auf, daß Leipzig als „Buchstadt“ so wie bisher kaum noch eine Chance hat. Rezepte für die Neuorientierung des Leipziger Buchmesse-Wesens gab es denn gegenwärtig auch fast so viele wie Verleger.

Wie schön, daß es da im Klubhaus „Heinrich Budde“, zehn Straßenbahn-Minuten vom Zentrum Richtung Norden entfernt, die 1.Alternative Buchmesse gab, die ein gutes Dutzend vor allem junger und bislang von den DDR-Orbigkeiten wenig geschätzter Literaten und Liedermacher in weniger als fünf Wochen vorbereitet hatte.

Rund 70 Klein- und Kleinstverlage aus der DDR, der BRD, aus Österreich und der Schweiz gaben sich ungezwungen die Ehre zu erstmaliger welt-öffentlicher Präsentation ihrer verschiedenen Produktionen. Mancher neue DDR-Verlag hatte denn auch kaum mehr als die gute Absicht auszustellen, wenngleich allerdings selbst diese schon dankbar angenommen wurde. Namen wie „Mutabor“, „Oktopus“ oder „Forum„-Verlag Leipzig werden in den nächsten Monaten, wenn sie die vielfältigen finanziellen Hürden überwinden können, durchaus das Zeug haben, bekannteren Verlagshäusern Konkurrenz zu machen. Die „Forum„-Leute aus Leipzig jedenfalls haben es mit ihrem ersten Buch zum revolutionären Herbst 1989 - mit Hilfe des Gütersloher Mohn-Drucks - schon geschafft. Die Startauflage von 30.000 Exemplaren war in sechs Stunden ausverkauft - eine Nachauflage steht demnächst in Sicht und soll dann auch landesweit vertrieben werden.

Größter Aussteller bei den Alternativen war kurioserweise der „konservative“ DDR-Kinderbuchverlag Berlin, dem aus Platzmangel im offiziellen Buchmessehaus nur wenig Raum zur Verfügung gestellt werden konnte, denn die „Ravensburger“ Spiele- und Bücher-macher sollten dort schließlich nicht leer ausgehen.

Demgegenüber hatte sich der neugegründete „LinksDruck“ aus Ost-Berlin, der künftig vor allem Sachbücher zu Politik und Zeitgeschehen des 20.Jahrhunderts offerieren will, bei den Leuten der Alternativen Buchmesse und denen der offiziellen gleichermaßen eingenistet.

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, hatte Gorbatschow im Oktober 1989 an die Adresse der ehemaligen DDR-Offiziellen gerichtet gesagt, nicht ahnend, daß sich sein prophetisches Wort auch auf die diesjährige Buchmesse anwenden lassen würde. So fanden die Zeitschriften-Verleger von Gruner und Jahr aus Hamburg pikanterweise nur noch einen Unterschlupf auf dem Gemeinschaftsstand der Helios-Literatur -Vertriebs-GbmH, West-Berlin, deren Nähe zur Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW) hinlänglich bekannt ist.

Angesichts solcher vor Jahren noch undenkbaren Konstellationen verwunderte es den professionellen Messebesucher kaum noch, einen ehemals leitenden Mitarbeiter des DDR-Kulturministeriums nunmehr als DDR-Repräsentanten des Bertelsmann-Leserings vorzufinden. Und daß einer der früheren Chefs des staatlichen DDR-„Volksbuchhandels“ inzwischen Geschäftsführer beim westdeutschen „Ramsch„-Buch -Grossisten Pawlak geworden ist, hatte kaum noch mehr ein Achselzucken zur Folge.

Auch so materialisierte sich beiderseits der nicht mehr fest vermauerten deutsch-deutschen Grenze neues Denken.

Für die größeren bundesdeutschen Verlagshäuser sind schließlich die Vertriebs- und Markt-Erfahrungen der DDR -Buchspezialisten durchaus nutzbringend, kann man sich doch so dem neuen Markt unter Verwendung vorhandener Kenntnisse rascher als gedacht nähern.

Ein „Fairneß„-Papier, das die Mitglieder des DDR -Börsenvereins ihren Kollegen von der Frankfurter Vereinigung zur Festschreibung einiger Riten im Umgang miteinander auf den neu zu erschließenden Absatzmärkten darbieten wollten, wanderte erwartungsgemäß rasch in die Ablage. Man könne die neue Zeit, so ein Mitarbeiter des Frankfurter Börsenvereins, schließlich nicht mit alten Konditionen ummauern wollen.

Da verwunderte es denn auch nicht, daß DDR-Verleger durchaus geneigt sind, ihre Autorenverträge künftig nach westdeutschen Richtlinien abzufassen, wonach die Honorare für die VerfasserInnen rapide reduziert werden dürften.

Doch schließlich ist man sich einig darin, daß der „einheitliche deutsche Büchermarkt“ solcherart „neues Denken“ erfordert. Schließlich müssen die Verluste an Lizenzgebühren für Bücher, die bisher von verschiedenen Verlagen beiderseits der Grenze verbreitet wurden, irgendwie wettgemacht werden. Lizenz-Transfer war also „out“, Parteiliteratur wird nicht mehr gedruckt, jetzt also zählt weitgehend nur, was mit einigem Marketing-Einsatz kostendeckend und gewinnbringend an die Frau und an den Mann gebracht werden.

Wie gesagt: „Die schönen Zeiten sind vorbei.“

Bleibt abzuwarten, wie dies alles der bislang wegen ihrer politischen Inhalte vielgerühmten Literatur von DDR -SchriftstellerInnen bekommt.

Michael Hinze