On-line in den Tod

■ Wenn sich Pit Cleber mit gesunder Ernährung und seinem Computer beschäftigt, vergißt er nicht nur seine Freundin Samenta. Das hat tödliche Folgen...

Von

THOMAS WORM

un mach schon.“ Pit Cleber kniff ungeduldig die Augen im staubgeschwängerten Dämmerlicht seines Altbauzimmers zusammen. Die Antwort kam prompt.

„Na siehst Du!“ Langsam wiederholte Pit: „Ingwerrüben transkaukasisch, Nußragout auf Rindenbreifladen, Wurzelgemüse bitter nach kleinwalisischer Art.“ Er nickte anerkennend. „Hab ich Dir's nicht an langen Abenden beigebracht? Kannst doch die Menüs alleine kombinieren.“ Er tätschelte sein Gegenüber. „Was sollte ich bloß ohne Dich anfangen?“

Pit Cleber, von Freunden auch „PC“ genannt, aß prinzipiell nie etwas, ohne seinen Personal-Computer zu konsultieren. Das hatte seinen Grund. Alle Nahrungsmittel unserer inzwischen so tückischen Natur, die ihm keinesfalls schaden konnten, befanden sich dort abgespeichert. Nicht allzu viele. Daher übernahm es das ausgetüftelte Gesundheitsprogramm, einen abwechslungsreichen Speiseplan zusammenzustellen, inklusive appetitanregender Namen - wie Pit fand.

„Rrrrrrr“ - jedesmal, wenn das hinfällige Schnarren der Wohnungsklingel in die gesundheitsbezogene Stille drang und Pit aus seiner Geschäftigkeit aufschreckte, lief ein feiner Riß durch seine Welt.

Es war Samenta; sie wirkte geladen. Außer Atem rauschte sie durch die Küche, steuerte auf „Terminal Station“, Pits Arbeitszimmer zu, und ließ sich da in den riesigen Ohrensessel plumpsen.

„Puh, sag mal, PC, warum bist Du nicht ans Telefon gegangen? Habe pausenlos versucht, Dich anzurufen!“

„Du weißt doch ganz genau, daß ich nie abnehme, wenn ich beschäftigt bin. Außerdem, laß uns lieber in die Küche gehen, Terminal Station ist kein passender Ort für einen Streit.“

„Bloß nicht Dein Heiligtum besudeln, was?“ Dann äffte Samenta ihn nach: „Törrminell Stäischon.“ Dieser aufgeblasene Amerikanismus für Pits verhaßten Elfenbeinturm brachte sie erst richtig in Fahrt. „Du hast doch'n Schuß, Cleber! Seit Wochen versuche ich Dich aus Deiner Scheißbude rauszukriegen. Und Du? Klebst wie der letzte Hypochonder an der Mattscheibe vor Deinem Freßprogramm.“ Samenta verzog ihren Mund zur Kinderschnute, „Hattu wieda Probleme mit Pappchen?“

„Was weißt Du schon von Hypochondern“, entgegnete Pit leichthin.

„Genug, um zu wissen, daß Du einer bist. Man müßte einfach mal was Genießbares in Dein Datenmenü mischen, von mir aus Eisbein mit Sauerkraut. Würdest schon sehen, daß Du nicht dran krepierst.“ Spitz setze sie nach: „Eigentlich wollte ich mit Dir ins Jazzkonzert gehen, Steve Coleman, der Altsaxophonist spielt nachher im 'Bellavista‘. Nun kommt Ibo mit, konnte Dich ja nicht erreichen.“

Jetzt, da Samenta ihren jahrelangen Schatten Ingo Bohlheim erwähnte, fiel Pit das besondere Outfit auf: schwarzseidener Rock, breiter Stretchgürtel und die lila Pumps, von denen sie ihm gegenüber immer behauptete, sie könne vor lauter Fußschmerzen keinen Schritt darin tun.

„Für den trägst Du die high heels, und für mich bleiben die Turnschuhe.“ Er zielte unter die Gürtellinie. Der Rest ihrer Auseinandersetzung endete in gegenseitigem Gebrüll.

„Zieh doch ruhig um die Häuser mit Bohlheim, Deinem Terrier!“ schrie Pit noch der davoneilenden Samenta ins Treppenhaus hinterher. Dann war es totenstill um ihn herum.

ie Wiederbegegnung mit Pit Cleber kam für Pückler unverhofft. Fast hätte er den alten EDV-Spezi und Clubgenossen aus der „Speicherasche“ nicht wiedererkannt, wie er dort im Sessel saß. Gut zwei Dutzend Kilo mußte er seit ihrem letzten Zusammentreffen gelassen haben. Das einstmals rundliche Gesicht mit den nervös zuckenden Basedowaugen erschien regelrecht eingesunken. Menschenskind, der Cleber! Im Computerclub kursierte seinerzeit die legendäre Gleichung: einmal Cleber plus 20 Tassen Kaffee plus eine Nacht macht insgesamt ein geknacktes EDV-System. Voller Hingabe hatten sie in die Rechner des Innenministeriums C-Viren eingeschleust, um gezielt Speicherplätze zu löschen und einschlägige Personendateien leerzufegen. Wie war mittlerweile alles anders geworden! Mit einemmal begriff Pückler schmerzlich, wie gerne er Cleber ansprechen würde. Daß der so übermäßig abgespeckt hatte, störte Kommissar Pückler weitaus weniger als der Umstand, daß Pit Cleber tot war.

Sachlich zu sein, fiel Pückler im Moment verdammt schwer. Von wegen Routineuntersuchung. Ein weggesacktes Stück Vergangenheit formte sich zum Würgegriff. Keinesfalls nachgeben! Pückler faßte zwanghaft die Fakten zusammen: Der Tote vor etwa drei Stunden von seiner Freundin in der Zweiraumwohnung aufgefunden. Wohnküche und Arbeitszimmer, ziemlich verwahrlost. Außenklo. Keinerlei Hinweise auf äußere Gewaltanwendung bei der Leiche, ebensowenig auf Selbstmord. Pückler ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen - diskettenübersäter Fußboden, Kabelgewirr, der blinde Bildschirm, und unweit davon in schräg verkrampfter Pose saß im Ohrensessel Cleber, schmuddelgrauer Jogginganzug. Offenbar hatte er kurz vor seinem Tod noch gegesssen, die Gabel war ihm aus der Hand in den Schoß gefallen; an der Kante des Nierentisches stand unsicher abgestellt ein Teller, auf dem angetrocknete Speisereste lagen. Sobald Pückler den Obduktionsbefund kriegte, würde er mit den Befragungen anfangen. Er ging hinüber zum Tischchen, um etwas von der Henkersmahlzeit fürs Labor mitzunehmen. Leicht angewidert roch er an dem schon krustigen grüngelben Pamps. Unverkennbar - Bittermandelgeruch...

ammerschade, überlegte Pückler versonnen, welchen Weg der einst so lebhafte EDV-Besessene Cleber genommen hatte. Seine Freundin Samenta, merkwürdig starr und unbeteiligt, hatte Pückler während des Verhörs das Bild eines eingebildeten Kranken gezeichnet: depressive Ich-Bezogenheit, gesellschaftliche Isolation, ständig zunehmende Klagen über sogenannte Kreuzallergien nach dem Genuß bestimmter Gerichte. Aber niemand der Befragten aus Clebers spärlichem Bekanntenkreis - auch Samenta nicht - konnte je Symptome wie etwa Hautauschläge an ihm beobachten. Mit beängstigender Energie war Cleber in seinen letzten Lebensmonaten darangegangen, aus Analyseverzeichnissen sämtliche für ihn allergenfreien Nahrungsmittel per Computer aufzulisten und daraus verträgliche Menüs zu kombinieren. Pückler schüttelte den Kopf.

“... mein Spitzname Ibo von dem Kürzel kommt, das ich unter meine Beiträge in der Computerzeitschrift „Bit“ setze“, hörte er die Stimme.

Es gibt Typen, dachte Pückler, als er Ingo Bohlheim anblickte, die nehmen ihre Hornbrille ab und haben kein eigenes Gesicht mehr. Er mochte außerdem Bohlheims seitlich geknöpftes Stehkragenhemd und den saloppen Zweireiher nicht.

„Sie lieben sicher gemischtes Eis, nicht wahr, Herr Pückler?“ griente ihn Bohlheim in Anspielung auf seinen Namen an und lachte ganz allein über den gewollt zwanglosen Scherz.

Pückler ging drüber hinweg. Sätze wie „Cleber war doch bloß'n Allergie-Maniker“ und „Weiß gar nicht, warum sich Samenta so lange an den gehängt hat“ verrieten Pückler, was Bohlheim verschwieg: Er hatte Clebers Nähe eigentlich wegen dessen Freundin gesucht. Pückler wurde ungehalten und komplimentierte den letzten auf der Befragungsliste aus Pit Clebers Wohnung hinaus.

Er kehrte in das Arbeitszimmer des Toten zurück. Herzversagen in Verbindung mit Erstickungsanfällen, lautete das Ergebnis der Obduktion. An einer Bittermandelvergiftung war Cleber gewiß nicht gestorben. Aber woran sonst? Gedankenverloren ließ sich Pückler vor dem PC-Terminal nieder und tippte auf die Leertaste. Flackernd spannte sich das Bild auf. Energiesparende Abschaltung, durchzuckte es ihn, die Kiste war die gesamte Zeit über angeschaltet ghewesen! Unter der Überschrift „Wurzelgemüse bitter nach kleinwalisischer Art“ las Pückler verblüfft eine Auflistung von Rezeptbestandteilen, die einer Apotheke alle Ehre gemacht hätten, Pückler notierte. Nun wollte er mehr sehen, doch nachdem er auf „Ende“ gedrückt hatte, quittierte das Gerät jeden weiteren Tastendruck mit der knappen Bemerkung „Keine Zugriffberechtigung“. Statt, wie beabsichtigt gegen den Kasten zu schlagen, hielt Pückler inne. Wenn das stimmte, was ihm da eben in den Sinn geschossen war, dann wußte er, warum Cleber sterben mußte...