IM ZUG ÜBER DIE ANDEN

■ Durch Wüste und Hochland von Chile nach Bolivien

Auf den ersten Blick ist die Stadt Calama im Norden Chiles ein Ort wie viele andere in dieser Gegend. Sauber das Zentrum, schmuddelig und trostlos die Außenbezirke.

Aber es gibt Unterschiede. Die Stadt ist einer der wenigen Orte, die an das mickrige chilenische Eisenbahnnetz angeschlossen sind. Es gibt in Chile nur zwei Bahnlinien; die eine verbindet den Süden mit dem Norden, und die andere führt eben über Calama nach Bolivien. Die Stadt ist der letzte größere Ort vor der Grenze - und vielleicht deshalb fragt mich die Senora der Pension, in der ich ein Zimmer miete, wann ich wieder abfahren will. Sonst hatten mich die Menschen immer gefragt, wielange ich bleiben möchte.

Ich bleibe bis Mittwoch, denn dies ist in Calama der Stichtag für die Weiterreise. Deshalb kommen sie her, die Rucksackreisenden und Eisenbahnfreaks aus vielen Teilen der Erde. Der Zug nach Bolivien, der Wüstenexpreß, hält in der Stadt. Rucksacktouristen, die etwas auf sich halten, benutzen nicht den (teuren) Bus nach La Paz, sondern nehmen die Strapazen einer Andenüberquerung mit der Eisenbahn auf sich. Und es ist vielleicht wirklich die eindrucksvollste Art, um von Chile nach Bolivien zu gelangen.

Man hatte mich gewarnt. Die Höhe, so erzählen mir Reisende, die die Tour in umgekehrter Richtung erlebt haben, sei das Schlimmste. Calama selbst befindet sich 2.300 Meter über dem Meeresspiegel, und innerhalb von zwölf Stunden wird der Zug eine Höhe von weit über 4.000 Meter erreichen. Der Beamte am Fahrtkartenschalter rät mir dringend, während der Fahrt nicht vom Zug zu fallen, da die Lok wegen der Steigungen nicht anhalten kann und dem Pechvogel einfach davonfährt in der Wüste ein eher zweifelhaftes Vergnügen.

Aber es lohne sich, beteuern alle. Daß es sich zumindest für einige bereits gelohnt hat, wird schon kurz vor der Abfahrt deutlich: Es sind wesentlich mehr Fahrkarten verkauft worden, als Sitzplätze vorhanden sind.

In den drei Waggons herrscht ein unbeschreibliches Durcheinander. Auf den Gängen, auf den Sitzen, überall Berge von Gepäck, an denen alle gleichzeitig zu zerren scheinen. Zwei Indios versuchen, einen riesigen Sack mit Melonen in das Gepäcknetz zu wuchten. Um „meinen“ reservierten Platz streiten sich mehrere Chilenen, die genau wie ich eine Reservierung für den Sitz haben. Und immer mehr Menschen strömen in unser Abteil, das schon jetzt zu bersten droht.

Ein Pfiff ertönt, ein Ruck geht durch die Wagen, und wie aus Trotz setzt sich der Zug fast pünktlich in Bewegung. Vorbei geht es an den Randbezirken, wo die Ärmsten der Armen in Hütten aus Papier hausen. Vorbei am „Glückliche Fahrt!„ -Schild und vorbei an der größten Kupfermine der Welt, die sich nur wenige Kilometer außerhalb der Stadt befindet.

Von nun an wird es nur noch bergauf gehen, bis wir die Steinwüste verlassen und die Hochebenen der Anden erreichen, den Altiplano.

Schon nach kurzer Zeit erklimmen die ersten Reisenden die Dächer der Waggons, um dem Gedränge und der Hitze in den Abteilen zu entkommen. Durch die geöffneten Fenster dringt nur wenig Fahrtwind, da der Zug so langsam fährt, daß einige Wagemutige vorne abspringen und am letzten Wagen wieder auf den Zug klettern.

Links neben mir sitzt eine siebenköpfige indianische Familie, die für sich und ihr Gepäck vier Sitzplätze ergattern konnte. In aller Seelenruhe trinken sie Tee. Auch die Kinder sind auffallend ruhig. Weder Gequengel noch Geschrei, keine nervtötenden Streitereien, kein dauerndes „Sind wir bald da?“.

Ein bolivianischer Händler hat in der Not seine Waren, chilenische Schokolade, in der Toilette gelagert, die somit nicht mehr benutzt werden kann. Niemand regt sich darüber auf; man und frau müssen sich nun eben bis zum Klo im nächsten Waggon durchkämpfen.

Stur stampft die Lok, und nur im Schrittempo geht es manchmal vorwärts, doch die schneebedeckten Gipfel der Anden rücken langsam näher. Die begehrtesten Plätze sind an diesem sonnigen Nachmittag die türlosen Ein- und Ausgänge. Hier kann man sich die Füße vertreten, den Wüstenwind um die Nase pusten lassen und die Aussicht genießen. Wir durchfahren wilde Schluchten und endlos weite Ebenen, über denen die Luft flimmert. In der Ferne donnert ein Lkw über eine Staubpiste, die sich irgendwo in der Wüste verliert. Höhenkrankheit

Als die Sonne glutrot untergeht, befinden wir uns bereits knapp 4.000 Meter über dem Meeresspiegel. Die ersten Anzeichen des soroche, der gefürchteten Höhenkrankheit, machen sich bemerkbar: Kopfschmerzen, Übelkeit und Atemnot. Das Herz schlägt schneller, um den wenigen Sauerstoff im Körper zu verteilen. Die Atmung wird flach und hektisch. Für Notfälle hält das Zugpersonal Sauerstoffmasken bereit, falls es wirklich kritisch werden sollte. Darüber können die Indios allerdings nur lachen. Sie halten ihren Kreislauf mit Coca in Trapp, das in großen Plastiktüten herumgereicht wird.

Gegen Mitternacht passieren wir den höchsten Punkt der Reise, einen namenlosen Flecken Erde in 4.300 Metern Höhe. Kurz darauf werden an der chilenisch-bolivianischen Grenze die Pässe kontrolliert, und wir müssen den Zug wechseln.

Bei eisiger Kälte haben wir drei Stunden Aufenthalt an einem winzigen Bahnhof. Die Luft ist noch dünner als der Kaffee, der in der Station verteilt wird. Vier englische Rucksackreisende haben einen kleinen Kassettenrecorder dabei und versuchen, sich beim Tanz warmzuhalten. Doch jede Bewegung kostet Sauerstoff, der hier oben so rar ist. Ich schleppe meinen 18-Kilo-Rucksack die paar Schritte bis zum Bahnsteig und bin restlos erledigt. Wie ein kleines Gebirge hocken die Reisenden auf dem kalten Boden des Bahnsteiges beisammen, um sich herum die Gepäckstücke als Windschutz.

Als der neue Zug endlich eintrifft, beginnt der Wettlauf um Platz für Gepäck und Leiber ein zweites Mal. Eine junge Frau bricht im Gewühl zusammen, nach Luft schnappend wie die Fische auf den Märkten.

Schlaf finden in dieser Nacht nur die Kinder, die es sich auf den großen Bündeln gemütlich machen. Als der Morgen graut, haben wir den Altiplano erreicht. Am Rand der Strecke weiden Lamas, die mühsam die harten Gräser rupfen, die das naßkalte Klima zuläßt. Im Hochland dienen die Lamas hauptsächlich als Fleischlieferanten, die begehrte Wolle ist ein Nebenprodukt. Die Lamas können nur einmal im Jahr geschoren werden, da sie sich sonst erkälten und sterben. Ist der Sommer zu regnerisch, dürfen sie ihre Wolle ganz behalten.

Vereinzelt tauchen kleine Dörfer auf, wo wir bereits erwartet werden. Der Zug mit seinen Reisenden ist für viele Bauern des Hochlandes die einzige Möglichkeit, einmal in der Woche zusätzliches Geld zu verdienen. Dutzende von fliegenden Händlern stürmen bei jedem Halt die Abteile, um ihre Waren anzubieten. Akrobatisch schlängeln sie sich durch die Gänge, lautstark die Leckereien anpreisend. Kinder reichen Obst und Getränke durch die Fenster, auf den Bahnsteigen rühren Frauen mit groben Holzlöffeln in dampfenden Töpfen. Kalte Braten, geröstete Maiskolben und empanadas wechseln für wenig Geld die Besitzer. Auch selbstgebrautes Bier wird angeboten, und kaum jemand kann widerstehen. Im Nu verwandelt sich unser Abteil in ein riesiges Picknick, das der bolivianische Schokohändler mit spendierten Süßigkeiten beendet.

Die Strecke verläuft weiter auf dem Altiplano, und der Zug macht flotte Fahrt. Mehr als 24 Stunden sind wir nun schon unterwegs. Zum ersten Mal taucht der Schaffner auf und kontrolliert mißgelaunt die Tickets.

Draußen regnet es in Strömen, aber bei Bier und frischem Obst wird die Stimmung in unserem Abteil immer ausgelassener. Pasamos! Wir wird durch! Wer bis jetzt keine ernsten Schwierigkeiten mit der dünnen Luft bekommen hat, kann beruhigt sein. Der Körper hat sich an die Höhe gewöhnt.

Am frühen Abend erreichen wir den Endpunkt unserer Eisenbahnfahrt, die Stadt Oruro. Von hier aus geht es nur noch mit dem Bus weiter, der uns die letzten 200 Kilometer bis nach La Paz bringt. Geschlaucht, aber glücklich komme ich gegen 22 Uhr in der höchstgelegenen Hauptstadt der Welt an. Es war sehr schwer gewesen, Chile zu verlassen. Aber es hatte sich wirklich gelohnt.

Philip Stüdemann