Der letzte Westen

■ Alaska - letzte Bastion des amerikanischen Traums von unendlicher Weite und Freiheit

Henk Raijer/Gunda Schwantje DER LETZTE WESTEN

Alaska - letzte Bastion des amerikanischen Traums von unendlicher Weite und Freiheit

Vier Flugstunden, zwei Zeit- und mehrere Klimazonen trennen David Niethammer aus Salt Lake City, der Mormonenmetropole im Südwesten der USA, von seinem zweiten Zuhause. Einmal im Jahr, so auch in diesem Sommer, packt der gelernte Tiefbauingenieur seine Survival-Klamotten zusammen und fliegt nach Alaska. Und er ist nicht der einzige: Während tief unten die westlichen Ausläufer der Rocky-Mountains langsam den Blick auf den im Abendrot glitzernden Salzsee versperren, haben die zünftigen Männer in ihren Jeans und buntgescheckten Flanellhemden, die die Reihen unserer Boeing 727 mit Zielflughafen Anchorage bis auf den letzten Platz füllen, längst die legendären Lachsgründe Alaskas verortet. Eines steht schon vor dem ersten Drink fest: Kein Pink, Red oder Silver wird diese Saison seinem Schicksal entgehen, denn der Kenai River auf der Halbinsel gleichen Namens, südlich von Anchorage, ist längst kein Geheimtip mehr.

In nur drei Flugstunden hat sich die dürre Wüstenlandschaft in eine schneebedeckte, von Fjorden und Gletschern durchzogene Gebirgskette verwandelt. Die Sonne, kaum ist sie untergegangen, beginnt ihr Tagwerk. Um Mitternacht gestattet uns das Dämmerlicht den Blick auf die kleine Ansiedlung Sitka im südöstlichen Panhandle, einst Sitz des Generalverwalters des russischen Zaren, bevor sie mitsamt den 1,5 Millionen Quadratkilometern Alaskas 1867 für schlappe 7,2 Millionen Dollar den Besitzer wechselte.

Durch die scharfe Westkurve, mit der der Flieger jetzt Kurs auf Anchorage nimmt, bleibt uns der Blick auf Valdez, den Ort, dem am 24. März 1989 solch zweifelhafter Ruhm zuteil wurde, verwehrt: Das Rohöl, das sich aus dem Bauch des Supertankers „Exxon Valdez“ in den Prinz-William-Sund ergoß und den Fischern Alaskas im vergangenen Sommer jede Menge Freizeit bescherte, vermag jedoch die Vorfreude unserer Mitreisenden nicht im geringsten zu trüben. Auch David scheint von Gerüchten, die sämtliche Küsten Alaskas mit einem Ölteppich überzogen wissen wollen, vollkommen unbeschadet. Der Pioniergeist lebt

Munter machen sich die postindustriellen Trapper aus den lower 48 - wie hier die „unteren“ Bundesstaaten genannt werden - in die Viertelmillionenstadt Anchorage auf. Sie sind hierhergekommen, um wieder Pioniere zu sein, fernab der Konventionen des städtischen Lebens in Amerikas letzter Wildnis ihre individuellen Abenteuer zu bestehen. Nichts ist für den Mythenschatz dieser Nation so wichtig wie der Pioniergeist, vermeintlicher Garant für Freiheit und Unabhängigkeit. Alaska - mit 522.000 Einwohnern nach Wyoming dünnstbesiedelter aber gleichzeitig flächenmäßig größter Bundesstaat der USA - hütet heute einen Schatz, der dem Rest des Landes in den Augen der meisten US-Amerikaner seit der Fertigstellung der Union Pacific Railroad und der Erfindung des Telefons abhanden gekommen ist: den letzten Westen, the last frontier. „Go north!“

Frontier bedeutet nicht schlicht „(Siedlungs-)Grenze“, sondern steht darüber hinaus für die Aufforderung, die unberührte Wildnis zu besiegen und fremde Kulturen zu unterwerfen; frontier meint, sich der „Herausforderung Natur“ zu stellen, verheißt die Chance, noch einmal von vorne anzufangen, wenn man nur den Mut hat.

Ethische Bedenken gegen die hemmungslose Ausplünderung der vorgefundenen Schätze hat das kolonialisierte Alaska nie gehegt: Seit der dänische Seefahrer Vitus Bering im Auftrag des russischen Zaren 1741 die Wasserstraße zwischen Sibirien und Nordamerika entdeckte, gilt Alaska als das Land der Pioniere - der Pelzhändler, Goldgräber, Prospektoren und Bohrarbeiter, auf der Suche nach dem schnellen Glück. Zu Beginn war es die Gier nach Pelzen, abgelöst durch die von Auflagen ungebremste Jagd auf Wale. Dann kamen Kahlschlag und die Ausbeutung reicher Mineralienvorkommen. Der Goldrausch des späten 19. Jahrhunderts markierte nur den Beginn eines Boom-and-Bust-Zyklus, der schließlich 1968, als am arktischen Meer die Erschließung gigantischer Ölvorräte möglich erschien, in einen modernen gold rush mündete. Wieder hieß die Parole: „Go north!“ Und auch heute noch kommt die überwiegende Mehrheit der Zuwanderer in der Hoffnung, unmittelbar von den reichen Ressourcen des Landes zu profitieren. Anglerparadies

Angeln macht Spaß in Alaska - weil die Lachse prächtig und leicht zu ködern sind. 55.000 Kilometer Küste, mindestens eine Million Seen und Tausende von Flüssen laden geradezu ein, auch mal das Glück zu versuchen. Neben den passionierten Sportanglern, deren Freizeitgestaltung dem Treiben von Großwildjägern im Wettbewerb um Trophäen gleichkommt, also mit Nahrungsbeschaffung herzlich wenig zu tun hat, leben viele Einheimische von den scheinbar unerschöpflichen Fischgründen. So kann der 49. Bundesstaat die höchste Fangquote der USA verbuchen. 400 Millionen Kilogramm Fisch werden jährlich in Alaskas Gewässern erbeutet, die Hälfte davon Lachs, dazu kommen Hering, Heilbutt, Kabeljau und Königskrabbe. Neben der Öl-, Holz und Tourismusindustrie ist Fischfang der zentrale Wirtschaftszweig Alaskas. Mehr als 30.000 Alaskaner sind mit Fischfang und -verarbeitung beschäftigt.

Am Sterling Highway - in Kenai, Soldotna und Homer - gibt es zahlreiche Fischverarbeitungsfabriken. Das Geschäft mit fresh seafood from icy alascan water floriert. Gary Dennis, Eigner einer Lachsräucherei in Sterling, erklärt den Erfolg seiner Alascan Seafood Company: „Wir räuchern unseren Lachs für recht unterschiedliche Geschmacksrichtungen. Schließlich haben die Kunden der Delikatessenläden von Manhattan, Tokio, Paris und Berlin ganz präzise Vorstellungen davon, wie ein Alaska-Lachs zu schmecken hat.“

Außer dem Fisch verlassen alle anderen Rohstoffe den Staat unverarbeitet: Rohöl, crude, wird per Schiff in die Raffinerien von Kalifornien und Texas verfrachtet, Holz aus dem südlichen Panhandle zur Weiterverarbeitung in alle Welt exportiert, die Kohle speist vorwiegend japanische Kraftwerke. Der Reichtum Alaskas gründet sich ausschließlich auf der hemmungslosen Ausbeutung nicht oder nur schwer erneuerbarer Ressourcen. 90 Prozent seiner Einnahmen bezieht der Staat aus dem Geschäft mit dem Rohöl. Durch die einseitige Orientierung auf die extraktiven Industriezweige ist und bleibt Alaskas Ökonomie extrem anfällig. Winterschlaf

„Eigentlich leben wir ausschließlich im Sommer. Durch die nicht endenwollenden kalten, dunklen Monate konzentriert sich unsere Lebensenergie auf die helle Jahreszeit, in der wir für unser Auskommen sorgen, denn die meisten Jobs hier oben sind saisonabhängig. Außerdem nutzen wir jede freie Minute für ausgiebige Ausflüge ins Hinterland, für Camping und Kanufahrten. Ich liebe dieses Land, obwohl auch mir die rauhen Bedingungen manchmal arg zu schaffen machen“, sagt Danny Larsson. Die Larssons gehören zu den sourdoughs, den Alteingesessenen, die schon viele Winter in Alaska überstanden haben.

In den Stand der sourdoughs erhoben zu werden, ist ein besonderes Prädikat - eine Art Bescheinigung für Wildnistauglichkeit. Das Rezept der Larssons: „Im Sommer sind alle von einer angenehmen Unruhe und Geschäftigkeit ergriffen, wir schlafen kaum. Das holen wir dann im Winter nach - wie die Bären.“ Das Grundstück der Larssons liegt etwas außerhalb von Homer. Die Familie besitzt ein kleines Wasserflugzeug, es „parkt“ unten im See. Vor fast jeder Hütte dümpelt hier mindestens eine zweisitzige Chessna. Die Flugerlaubnis ist in Alaska beinahe so selbstverständlich wie bei uns der Führerschein. Danny: „Die meisten Orte sind an das ohnehin spärliche Straßennetz gar nicht angeschlossen. Die kleinen Privatflieger sind für uns Alaskaner lebenswichtig. Bei den Entfernungen...“ Die Öldollar

Zurück in der Stadt. Anchorage, die einzige „Metropole“ im unwirtlichen Norden, ist eine typische boom town. Je nach Konjunktur wird planlos geplant, verwegen gewirtschaftet und wieder pleite gemacht: Nur der Erfolg zählt, den Letzten beißen die Hunde. Nichts in der Architektur dieser Stadt - außer den Spiegelbildern der nahen Chugach Mountains in den wenigen gläsernen Wolkenkratzern - reflektiert auch nur ansatzweise die berauschende Schönheit der näheren Umgebung: der Berge und des Cook Inlet, jenes Fjordes, der erst nach dem schweren Erdbeben von 1964 schiffbar wurde und Anchorage vom nahegelegenen Seehafen Seward unabhängig machte.

Happy hour im Voyager Hotel. „Was wollt ihr trinken, you guys, heute geht alles auf meine Rechnung.“ Lärmend kommt ein großkariertes Flanellhemd durch die Schwingtür der Hotellounge, deponiert seinen grauen Seesack in eine Ecke und sich selbst an den Tresen. Charlie sitzen die Öldollar locker in der Tasche, für ihn ist Feierabend. Heute morgen noch an der Prudhoe Bay, dem nördlichsten outpost der Zivilisation am arktischen Meer, möchte er, bevor er für 14 Tage zu seiner Familie nach Tucson in Arizona fliegt, hier in Anchorage unter Gleichgesinnten den Schichtwechsel begießen. Zwei Wochen war er wieder „oben“, am anderen Ende der Pipeline. Das ist der Zeitraum, den Charlie an der Prudhoe Bay ausschließlich unter Männern mit der Wartung „seines“ Bohrturms verbringt - zwölf bis sechzehn Stunden am Tag.

Das Leben im Camp ist eintönig. Alkohol und Arbeit sind für die Ölarbeiter aus den fernen USA die einzige Abwechslung. In der Tundra nördlich der Brooks Range, wo sich im Winter die Sonne erst gar nicht blicken läßt und sich Frühling, Sommer und Herbst auf die Monate Juni, Juli und August komprimieren, gilt die frontier tatsächlich als Grenze. Wäre nördlich des arktischen Kreises nicht das schwarze Gold, von dem Amerikas Puls vermeintlich so sehr abhängt, es gäbe sie nicht, die Siedlungen und die modernen frontiersmen. Und sie werden gut bezahlt, diese tough guys, für ihren temporären Verzicht. „Vor Jahren, in Detroit, habe ich für 3,45 die Stunde Autos geschrubbt. Meine Frau mußte putzen gehen. Dann, 1975, bin ich hier rauf und hab‘ an der Pipeline mitgebaut, bis sie fertig war. Und in der Zeit habe ich mich so an dieses Leben gewöhnt, daß ich im Ölbusineß geblieben bin.“

Wir lassen Charlie allein und wechseln die Bar. Nur drei Blocks weiter, an der Fourth Avenue, gibt es keine prahlenden Pioniere, keine weichen Synthesizer-Klänge aus dezent plazierten Lautsprechern, keine ewig-lächelnden, proper gekleideten Serviererinnen - und keine happy hour. Hier steht die Tür zur Straße offen. Der Gast muß allerdings vorbei am überdimensionalen Wandschrank mit dem wuchtigen Baseballschläger in der Hand: Craig, rosiges Gesicht, seinen Stetson in den Nacken geschoben, steht auf seinem Posten und selektiert. „Störenfriede und Prostituierte bekommen hier keinen Drink, und von denen gibt es reichlich in dieser neighbourhood. Die meisten dieser indians sind aber ganz okay.“

Ein jugendlicher Aleute bedient wankend einen Glücksspielautomaten, drei Bierdosen stehen vor ihm auf der Glasplatte. Er flucht, die Metallzange, die ihm für seine quarter den Plüschteddy aus der Maschine holen soll, greift immer wieder ins Leere. Der Laden ist voll. Bis auf den Türsteher und den Wirt sind es Inuit, Aleuten und „Indianer“ aus anderen Regionen Alaskas. Es ist laut hier, obwohl kaum einer spricht. Apathisch stieren die Frauen und Männer auf das Geschehen an der Tür, wo Craig immer wieder Unerwünschte abwimmelt, auf die buntschillernde Jukebox, unterbrochen von Zeit zu Zeit nur von einem kurzen Wink für den Wirt. Sehnsüchte rufen die Country-and-Western-Melodien unter diesen Menschen sicherlich nicht wach, obwohl einige die schmalzigen Texte mitsummen. Boom and Bust

Der Glenn Highway bindet Anchorage an die Nabelschnur des nördlichsten Bundesstaates, den weiter östlich gelegenen, legendenumwobenen 2.500 km langen Alaska Highway, den Alcan, der 1943 in nur neun Monaten Kampf mit der Natur fertiggestellt wurde. Die Straße wickelt sich durch das fruchtbare Matanuska Valley, das auf drei Seiten von hohen Bergketten begrenzt wird. An 120 Tagen scheint hier fast 20 Stunden lang die Sonne, was zu ganz erstaunlichem Wachstum führt.

Farmer aus dem Mittleren Westen waren es, die das Tal seit 1935 in eine riesige landwirtschaftliche Produktionsfläche verwandelten. Unzählige Bäche, Flüsse und Seen haben es zu einem beliebten Ausflugsziel für die Städter aus Anchorage und Fairbanks gemacht. Südlich des Highway, dessen Asphaltbelag sich durch den Permafrost an vielen Stellen gefährlich wölbt, legt sich der Matanuska-Gletscher wie eine breite, weißgrün glitzernde Zunge in das Tal hinein. Einmal angekommen auf der Hochebene der Chugach-Mountain-Kette bauen sich wie ein undurchdringliches Spalier die drei Wrangell-Giganten vor uns auf; über hundert Kilometer lang, bis nach Glennalen, wo der Richardson Highway nach Valdez abzweigt, lassen einen die drei schneebedeckten Fünftausender-Majestäten nicht mehr aus den Augen.

Abseits der Straße trollen sich junge Schwarzbären zwischen den Stahlträgern der silberfarbenen Pipeline, die hier parallel zum Richardson Highway nach Valdez verläuft. Die zerfallenen Holzverschläge am Straßenrand deuten darauf hin, daß die Zivilisation auch bis hier vorgerückt war: „Closed“ steht in eiliger Handschrift auf Pappschildern an den Türen der wenigen Snackbars und Tankstellen, ja sogar Motels in Willow Creek, Tonsina und Ptarmingan. Ganze Siedlungen, deren Relikte sich aus der Boom-Zeit des Pipelinebaus hinübergerettet haben, liegen mit verbretterten Fenstern an der Straße wie zurückgelassener Sperrmüll. Katastrophentourismus

Am Thompson Paß, der die Reisenden ganz unerwartet nochmal in eisige Höhen führt, quält sich eine ganz besondere Spezies von Wagemutigen durch die Chugach-Bergkette: Die Rentner kommen! Für diese Avantgarde der Freizeitgesellschaft schuf General Motors den idealen Untersatz: den winnebago, das Eigenheim auf Rädern. Auf die greisen Asphalt-Kapitäne aus den lower 48 hat der Lockruf der Wildnis heute eine Sogwirkung wie vormals die Kunde vom Gold im Klondike. Heute gibt es kaum einen Ort, der von den winnebagos unberührt bleibt. Abend für Abend finden sich die betagten Abenteurer der Landstraße zusammen

-ganz wie die Siedler in ihren Planwagen auf dem großen Treck in den „Wilden Westen“. Was aber treibt sie an das Ende der mehr als hundert Meilen langen Sackgasse nach Valdez - dem Ölterminal am Ende der 1.200 km langen Pipeline?

Valdez ist erst seit 1978 mehr als nur ein Punkt auf der spärlich markierten Landkarte Alaskas - seit der Fertigstellung der Trans-Alascan-Pipeline. Weil Kanada eine transkontinentale Ölleitung auf seinem Territorium nicht haben wollte, fiel die Wahl der Ölmultis auf den eisfreien Hafen am Prinz-William-Sund. Entsprechend erhielt das noch 1964 vom großen Erdbeben völlig verwüstete und nach Plänen eines Schweizer Architekten wiederaufgebaute Städtchen seine Prägung durch die Rohöltanks und Piers der Alyeska Pipeline Company. Valdez blüht und vergeht mit seinen Ausnahmesituationen: So strömten zu Zeiten des Pipelinebaus in den Siebzigern Tausende in diesen entlegenen Winkel und verdreifachten die Einwohnerzahl. Und im Sommer 1989 gleicht Valdez einem Heerlager: Der Ölmulti Exxon hat hier seine Kommandozentrale zur Überwachung der „größten Herausforderung unserer Unternehmensgeschichte“ eingerichtet. Auf dem improvisierten Campingplatz, der für die Putzkolonnen aus allen Teilen der USA aus dem Boden gestampft wurde, parken jetzt auch zahllose winnebagos: Valdez gehört in diesem Sommer zum touristischen Pflichtprogramm - ganz so wie der Mount McKinley im Denali National Park. Es ist der Exxon-Tourismus, der sie umtreibt. „Wir wollen uns persönlich davon überzeugen, was dieser betrunkene Kapitän mit unserem letzten Fleckchen unberührter Natur angestellt hat“, so einer, der es nicht versäumt, voller Stolz auf den Aufkleber am Heck seines benzintrunkenen Gefährts zu zeigen, auf dem verheißungsvoll in großen Lettern steht: „I drove the Alcan“.