Ein Plädoyer für den Rechtsanwalt

Guntolf Herzberg, selbst lange Jahre in der DDR-Opposition, verteidigt seinen Anwalt W. Schnur: Zwischen menschlicher Schwäche und anwaltlicher Stärke  ■ D E B A T T E

Wolfgang Schnur als Stasi-Spitzel - das war das Salz, das noch fehlende Gewürz im nun vergangenen und vergessenen Wahlkampf. Um den Politiker Schnur ist es nicht einmal schade. Mir gefielen seine markigen Worte und der nicht ganz gekonnte, durchdringende Leader-Blick nicht. Aber er war ein exzellenter Anwalt. Ich kenne genug Menschen, die das Glück hatten, von ihm verteidigt zu werden. Nun wissen wir, er hat mit der Stasi zusammengearbeitet.

Vom Krankenbett aus konnte er sich in einer intellektuellen Pogromstimmung nicht verteidigen, versuchte erst das übliche Leugnen eines Ertappten - das ihm eine jetzt erst recht peinliche Ehrenerklärung der CDU einbrachte -, dann gab er eine Rücktrittserklärung ab mit den klangvollen und glaubwürdigen Sätzen: „Ich betone verbindlich, mein Wirken und Dienst galt stets den Verfolgten, Unterdrückten, den Bedrängten, den Hilflosen. Durch mein Wirken ist kein Schaden für die von mir begleiteten und verteidigten Personen eingetreten.“

Wer nie mit der Stasi zusammengearbeitet hat, darf jetzt Steine werfen. Wer nie als Verteidiger in den gnadenlosen politischen Prozessen der DDR fungiert hat, sollte besser keinen Stein werfen.

1964 hat Schnur als Student eine Kooperationsverpflichtung des MfS unterschrieben. Das war der kleine Finger. Doch in welcher Situation? Wer die Verhältnisse in der DDR kannte, weiß es: Jeder Student war von der Stasi als potentieller Informant, Mitarbeiter ins Visier genommen worden. Das galt für Physiker - in Werner Stillers Im Zentrum der Spionage kann man dies detailliert nachlesen -, das galt für Theologen (und ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß mehrere Theologiestudenten durch dieses Nadelöhr gegangen sind), das galt erst recht für Gesellschaftswissenschaftler. Am stärksten wurde natürlich beim Kern des staatlich-parteilich-militärisch -staatssicherheitlichen Komplexes auf eine enge Stasi -Verbindung Wert gelegt: bei den Staatswissenschaftlern und Juristen. Das galt als Nagelprobe der Loyalität. Natürlich konnte man ablehnen. Aber wer wie der Christ Schnur Rechtsanwalt werden wollte, ohne in der SED zu sein, dazu als Mensch einen gedrückten, scheuen, ja demütigen Eindruck machte, der hatte es schwerer als andere, „nein“ zu sagen, um trotzdem sein Ziel zu erreichen. Also unterschrieb er. Und aus einem Finger wurden später mehrere.

Verurteilungen sind leicht, eine Weißwaschung wird von mir nicht versucht. Es geht um etwas Schwereres: ein Abwägen zwischen menschlicher Schwäche und anwaltlicher Stärke. Ich meine nicht, daß der (gute) Zweck die Mittel heiligt. Der Mensch Schnur (und der Christ dazu) wird die Zusammenarbeit nicht verziehen bekommen - das ist seine Last, die er tragen muß. Der Anwalt braucht sich nicht zu schämen. Er hat seinen Preis zahlen müssen - im Interesse der „Verfolgten, Unterdrückten, der Bedrängten, der Hilflosen“ - nur hat er sich peinlicherweise für Zuträgereien auch bezahlen lassen. Aber auch dieses Silberlingenehmen kann in einem totalitären Staat seine Logik haben: Prämien als Test für verlangte Loyalität, ihre Annahme als Ausweis, um loyal zu erscheinen

-ein teuflisches Spiel.

Schätzt man die Folgen seines unsauber-redlichen Handelns ein, so wiegen seine Verteidigungen politischer Gefangener, die das „normale Maß“ anwaltlicher Zuwendung oft überschritten, schwerer. Mag er auch unter Stasi-Schutz verteidigt haben - was damals keiner ahnen konnte -, den Vorteil hatte nicht er, sondern der jeweilige Klient.

Ich möchte zwei Vorschläge an die Öffentlichkeit bringen: Erstens, daß DDR-Juristen offen erklären, daß Stasi -Anwerbungen an den Fakultäten üblich waren (was nicht den Anwalt Schnur, aber das politische System der DDR moralisch charakterisierte); zweitens: daß sich derjenige/diejenige meldet, der/die das Gefühl hat - ich sage nicht: Beweise, sondern wirklich nur das Gefühl -, von Schnur „in die Pfanne gehauen“, also von ihm an die Stasi verraten worden zu sein. Ich bin mir sicher, daß sich keiner melden wird (auch die zornige Freya Klier sollte da Hemmungen haben).

Und ich möchte genauso die Öffentlichkeit fragen, wie man als Christ in einem totalitären Staat ein hilfreicher Anwalt werden kann. In der DDR ein guter Mensch zu sein - das konnten viele. Und ein guter Christ zu sein - desgleichen. Ein guter Anwalt zu sein - das konnten wenige. Und Schnur ist ein schmerzliches Beispiel dafür, daß offensichtlich alles drei zusammen in der DDR kaum möglich war.

Und man sollte nicht den Maßstab verlieren: Als der oberste Westausspäher nach mehr als 30 Jahren leitender Tätigkeit und bestens informiert das Ende der Honecker-Ära frühzeitig absah, um sich vom MfS abzuseilen, da haben meinungsbildende Kräfte im Westen in ihm nur allzugern den künftigen Reformer gesehen und ihm das Lamm im Wolfspelz zugebilligt. Aber einen der hilfreichsten Anwälte, den die DDR je besessen hat, darf man locker als Stasi-Spitzel bezeichnen.

Brecht meinte einmal (in den Flüchtlingsgesprächen), um aus totalitären Verhältnisssen in menschenwürdige zu gelangen (damals konnte er diese noch hoffnungsvoll als Sozialismus bezeichnen), da braucht es für den einzelnen „äußerste Tapferkeit, tiefsten Freiheitsdurst, größte Selbstlosigkeit und größten Egoismus“. Der nun so belastete Anwalt Schnur wird sich daran gehalten haben.

Guntolf Herzberg

Der Autor zog 1985 von Ost-Berlin in den Westteil der Stadt. Er ist heute Lehrbeauftragter für Philosophie an der Freien Universität