Augenblicke des Glücks

■ Mit der Moskauer Schriftstellerin und Dramatikerin Ljudmila Petruschewskaja sprach Sonja Margolina

Ljudmila Petruschewskaja ist 51 Jahre alt. Nach ihrem Abschluß an der journalistischen Fakultät der Moskauer Universität arbeitete sie beim Rundfunk. Jetzt ist sie freischaffend. Sie hat drei Kinder und zwei Enkel.

Sonja Margolina: Ljusja, Sie wurden mehr als zwanzig Jahre nicht gedruckt. Wie steht es jetzt damit, und was hat sich für Sie geändert?

Ljudmila Petruschewskaja: Ich arbeite ununterbrochen. Im letzten Jahr erschienen drei Bücher. Gestern hat mir wieder ein Verlag die Herausgabe eines Buchges in 150.000 Exemplaren angeboten. Äußerlich gesehen ist meine Situation jetzt erfreulich. Gute Zeiten sind angebrochen.

Empfinden Sie eine Bitterkeit, wenn Sie daran denken, daß alles so spät gekommen ist, daß Ihr Werke lange in der Schublade gelegen haben und jetzt vielleicht keine Resonanz mehr hervorrufen?

Nein, Bitterkeit würde ich nur dann empfinden, wenn meine Sachen veraltet wären. Aber das stimmt nicht. Im Gegenteil, die wenigen Erzählungen, die vor acht Jahren erschienen, hat keiner bemerkt, sie wurden kaum gelesen. Jetzt liest mich nicht wie früher die Elite, sondern ein demokratischer Leser, der Bücher nicht im Sonderladen, sondern am Zeitungskiosk kauft.

Wenn man Ihr Thema sehr grob und geradlinig umreißen will, so ist es die gesellschaftliche Schizophrenie. Sowohl in Ihren Erzählungen als auch in ihren Stücken leben die Helden außerhalb gesellschaftlicher Normen, außerhalb der Grenzen der normativen Moral, außerhalb stabiler sozialer Gruppen. Ihre Aktivität (oder Passivität) verwirklicht sich in einem zerfallenen Sozium, wo die soziale Desorientierung durch den Darwinismus, den Kampf ums Überleben kompensiert wird. Ihre Helden gehören nicht zu einer bestimmten sozialen Schicht, es sind Passagiere eines sinkenden Schiffes, die sich in dem krampfhaften Kampf ums Überleben, um die Kinder zu retten, um rettende Ufer zu finden aneinander oder an einem Phantom festklammern. Vor zehn Jahren sah ich in einem Amateurtheater eine übrigens schwache Inszenierung Ihres Einakters „Cinzano“. Neben mir saßen zwei junge Mädchen, die sich dauernd zuflüsterten: „Die reinste Pornographie“, obwohl überhaupt nichts Unanständiges vorkam. Ich glaube, die beiden meinten die „Pornographie“ in der von Ihnen auf der Bühne dargestellten Lebensweise, das Anstößige, Undenkbare, das man nie nach außen zeigt, was man für gewöhnlich hinter der Maske des Anstands nicht nur vor Fremden, sondern auch vor sich selbst versteckt. Was in die schwarze Ecke des Bewußtseins verdrängt wird. Relativ viele Leute zum Beispiel wünschen sich den Tod ihrer Eltern. Warum? Weil die Abhängigkeit, in der sie sich in der Sowjetunion von ihren Eltern befinden, sie auch noch der wenigen Freiräume beraubt, die sie in der sowjetischen Gesellschaft haben. Aber die schrecklichen Gedanken, durch diese Ausweglosigkeit hervorgerufen, werden meist unterdrückt. Ihre Helden dagegen verbergen diese schwarzen Bewußtseinslöcher nicht, sie sind dezivilisiert, ihnen fehlt das Gefühl des gesellschaftlichen Anstands, der Form. Und dieses verrückte Leben ist so glaubhaft, daß das schwarze Bewußtseinsloch des Helden sich berührt mit jenen schwarzen Ecken des Bewußtseins im Zuschauer, die dieser mit Erfolg vor Fremden zu verbergen sucht, die aber, wie bei einer psychoanalytischen Sitzung, durch die Kraft der Kunst aus dem Unterbewußtsein des Zuschauers hervorgeholt werden und sich ihm in ihrer ganzen Nacktheit zeigen. „Ich bin nicht so“, „das ist unanständig“, „Pornographie“ - so lautet die Schutzreaktion. Damals sagten mir die Soziologen, ein einziges Stück der Petruschewskaja sei mehr wert, als alle Untersuchungen des soziologischen Instituts der Akademie der Wissenschaften.

Damals war das wirklich ein Schock für die Zuschauer. Dieser Zuschauer nahm nur die soziale Kritik wahr: Die gehen nicht zur Beerdigung der Mutter - also sind sie Verbrecher; sie reden über Mädchen - also sind sie Verbrecher. Für den Zuschauer war das ein menschlicher Verfall, den er nicht verdauen konnte. Alles braucht seine Zeit. Heute empfindet der Zuschauer sogar stärker noch als früher die moralisierende Seite des Stücks, doch gleichzeitig befreit er sich davon und freut sich über originelle Ausdrücke, über die Sprache. In den Vordergrund tritt also die ästhetische Wahrnehmung, die schauspielerische Virtuosität. Immer mehr Menschen fassen das Stück nicht mehr nur als soziale Kritik auf, für sie ist der Rhythmus, das Wort wichtig. Der sowjetische Zuschauer ist viel reifer geworden. Ich bin begeistert von unseren jungen Leuten. Solschenizyns Archipel Gulag kommt einer Universitätsbildung, einer Lebenserfahrung gleich. Viele waren im Ausland, ihr Horizont hat sich kolossal erweitert. Die nationale Bildung macht Riesenfortschritte.

Parallel zu dieser Universitätsbildung oder sogar als Reaktion auf sie können wir die Konvulsionen eines faschistischen Phantoms, das Gespenst eines neuen „großen Blutes“ beobachten, diesmal nicht nach Zugehörigkeit zu einer Klasse, sondern zu einer bestimmten Nation. In Ihrer Erzählung „Die neuen Robinsons“ (Eine Chronik vom Ausgang des 20.Jahrhunderts), erschienen in der Literaturzeitschrift 'Nowy mir‘ 1989, Heft 8, rollt ein Szenarium der nahen Zukunft ab. Eine Familie kommt aus der Stadt in ein ausgestorbenes Dorf und versucht, dort zu überleben. Ringsum Leere, Wald. Am meisten fürchten sie ihresgleichen, verstecken sich. Aber auch im Dickicht des Waldes drohen „Requirierungskommandos“ ihnen ihre letzten Vorräte, möglicherweise auch das Leben zu nehmen. Die Erzählung ist sehr beklemmend, obwohl fast nichts passiert. Was hatten Sie im Sinn?

Die Erzählung habe ich vor zehn Jahren geschrieben. Sie gehört zum Genre der Warnungsliteratur, sie will zeigen, wie es kommen könnte... „Requirierungskommandos“ tauchen in jedem Krieg auf. Ihretwegen durfte die Erzählung so lange nicht gedruckt werden. Hier war ein Modellfall gezeigt, wie Faschismus ins Leben eindringt. Eine Anspielung hat bisher noch keiner verstanden. Das Lied Über ganz Spanien wolkenloser Himmel wurde vor dem Franco-Putsch oft im Radio gespielt. Für die Menschen, die jetzt unser Land verlassen, geben Die neuen Robinsons ein Bild dessen wieder, vor dem sie fliehen. Es gibt heute solch eine Tendenz: entweder weggehen oder „Vorratskeller graben“. Rußland ist ein Land, in dem der Herr verschiedene Varianten durchspielt. Eine Funktion der Literatur ist die Warnung. Sie übernimmt die Rolle der Welterfahrung. Doch ich würde mich gerne als falscher Prophet erweisen.

Sie sind ein weiblicher Schriftsteller und schreiben häufig über Frauen. In Ihren Stücken agieren alte Frauen, junge Frauen, die unterschiedlichsten Vertreterinnen des schönen und auch weniger schönen Geschlechts. Der westliche Leser sieht in Ihnen eine Frauenschriftstellerin. Welche Bedeutung hat für Sie eine solche Klassifizierung?

Ich bin genauso ein Frauenschriftsteller wie Flaubert oder Maupassant.

Sie erkennen diese Einteilung nicht an?

Genausowenig wie die Einteilung nach Rasse... Es gibt gute und schlechte Schriftsteller. Obwohl, es gibt eine wunderbare „Damenprosa“, ich liebe diese „Damenspitzen“ außerordentlich. Ein glänzender Vertreter dieser Frauenprosa ist ohne Zweifel Hemingway.

Kampf ist nicht mein Metier. Mit so was werde ich mich nie abgeben. Ich kann wohl in einer Warteschlange dafür kämpfen, daß alle gleichviel abbekommen. Doch das ist die ekelhafteste Beschäftigung, die ich mir nur denken kann, denn dabei verliert man sein Gesicht. Was den Platz an der Sonne im Schriftstellermilieu anbelangt, so haben in Rußland meine männlichen Schriftstellerkollegen nur widerstrebend zugegeben, daß ich Dramen schreiben kann, aber auf keinen Fall Prosa. Dieser Mythos hält sich schon eine ganze Zeit. Sogar für den Almanach Metropol wollte man nur ein Theaterstück von mir haben. Das hat mich damals ziemlich gekränkt. Dramatikerin darf ich also sein.

Wollen Sie damit sagen, daß die Verhältnisse bis zum heutigen Tag patriarchalisch sind, obwohl Frauen fast auf jedem Gebiet vertreten sind?

Ich habe nicht den Wunsch, irgendeine wichtige Rolle zu spielen und gehöre weder Assoziationen nach Geschlechtsmerkmalen noch politischen Vereinigungen an. Ich bin nicht einmal Mitglied der Schriftstellergruppe „April“. Sogar dort gibt es schon Chefs. Vorne sitzt ein Präsidium. Wozu in aller Welt soll ich mir auch noch die aufhalsen?

Wie ist Ihr Verhälnis zur Frauenproblematik überhaupt? Hat diese spezifische Problematik eine Existenzberechtigung? Sollen die Frauen getrennt von den Männern und gegen sie um ihre Rechte kämpfen?

Die Freiheit der Frau vom Mann - das ist eine falsche Problemstellung. Der Mensch wird zum Menschen, wenn er verzichtet. Eine Persönlichkeit entsteht erst dann, wenn der Mensch auf etwas verzichtet. Die Selbsteinschränkung ist der Anfang der Individualität. Da, wo der Mensch sich selbst beschränkt, beginnt sein eigentliches Leben. Die Frau, die eine Ehe schließt, muß auf andere Männer verzichten. Die Mutter, die ein Kind geboren hat, verzichtet auf vieles in ihrem Leben. Pflichten sind der Beginn der Individualität. Wenn ich nur für mich nach Freiheit und Freude strebe, gewinnt kein Mensch auch nur einen Deut Freiheit und Freude mehr. Ich bin in einer rauhen männlichen Schule erzogen worden. Mein Familienleben geht keinen was an.

Aber wenn Frauen solche Probleme diskutieren, heißt es doch, daß es sie gibt.

Alle haben solche Probleme, Männer selbstverständlich auch. Aber der Beruf hat nichts mit dem Geschlecht zu tun. Entweder du bist ein guter oder ein schlechter Arbeiter.

Früher durften Sie nicht ins Ausland, doch seit Beginn der Perestroika sind Sie oft gereist. Und? Gefällt es Ihnen im Westen?

Nein. Dort ist mir alles fremd. Natürlich ist es im Westen zivilisierter. Doch bei uns gibt es so viele wunderbare Menschen. Und dann kennen Sie sicher das Sprichwort: „Die eigene Scheiße riecht nicht.“ Und außerdem gibt es im Leben manchmal... Augenblicke des Glücks. Übersetzung: Antje Leetz

Von Ljudmila Petruschewskaja sind auf deutsch erschienen:

„Drei Mädchen in Blau“, Verlag Volk und Welt, Berlin 1985

„Musikstunden“, Verlag Volk und Welt, Berlin 1985

„Cinzano“, Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt/Main 1989

1990 erscheint bei Volk und Welt, Berlin, der Erzählungsband „Unsterbliche Liebe“.

Am 24.März 1990 hatte das Stück „Der Moskauer Chor“ in Schwerin Premiere.

Am 27.März um 10.30 Uhr im verlag Volk und Welt eine Pressegespräch, am selben Tag um 18 Uhr Diskussionsabend mit der Autorin im Haus der sowjetischen Kultur und Wissenschaft in der Friedrichstraße.