Peru ist zum politischen Notfall geworden

Am 8. April wird ein neuer Präsident gewählt / Im Vorfeld versuchen IWF und andere internationale Organisationen, die wirtschaftliche und soziale Katastrophe zu entschärfen  ■  Von Gabriela Simon

Peru kippt um, aber niemand weiß, in welche Richtung. Die Intellektuellen in Lima sprechen von einer beginnenden „Libanonisierung“ des Landes, der Verfall der gesellschaftlichen Strukturen ist beispiellos in der Geschichte des Andenstaates. Seit Mitte der siebziger Jahre geht es in Peru wirtschaftlich bergab. Die Kaufkraft der Löhne ist seit 1985 um 60 Prozent geschrumpft, seit 1973 sogar um 80 Prozent. Die verheerende Krise der letzten beiden Jahre ließ die Nachfrage nach Konsumgütern weitgehend zusammenbrechen, die Produktion sank: 1988 um neun Prozent, 1989 um zwölf Prozent. Die Hälfte der peruanischen Familien lebt heute unter dem Existenzminimum. Mit dem Hunger und der Unterernährung steigt die Kindersterblichkeit.

Längst ist die Krise nicht mehr nur wirtschaftlicher Natur

-die peruanische Gesellschaft löst sich auf. Neben der zunehmenden politischen Gewalttätigkeit der Guerillaorganisation Sendero Luminoso, des Militärs und der rechten Todesschwadron eskaliert die „gewöhnliche“ Kriminalität, der alltägliche Terror bewaffneter Banden und Wegelagerer, der jede nächtliche Busfahrt, jede Reise von einer Stadt in die andere zu einem riskanten Abenteuer macht.

In diesem Klima des „Rette sich, wer kann!“ bahnt sich der Schriftsteller Mario Vargas Llosa als Kandidat des rechten Oppositionsbündnisses FREDEMO (Demokratische Front) zielsicher den Weg zur Macht. Sein Credo heißt Marktwirtschaft und „Freiheit“, seine Rezepte zur Sanierung des Landes könnten einem Lehrbuch des Wirtschaftsliberalismus entnommen sein (siehe Kasten). Wenn Vargas Llosa die Wahl im April gewinnt und wie beabsichtigt die Preise und den Dollarkurs freigibt, dann wird die Inflationsrate von derzeit 3.000 Prozent auf 31.000 Prozent hochschnellen, bevor sie allmählich im Zuge einer schweren Rezession und einer völlig zusammenbrechenden Nachfrage nach Konsumgütern auf 25 Prozent absinkt - das sind nicht etwa Horrorvisionen der Linken für den Fall eines Wahlsieges von Vargas Llosa, sondern die kühlen, vorausschauenden Berechnungen zweier FREDEMO-Ökonomen. Die soziale Katastrophe ist eingeplant.

Wie soll die peruanische Bevölkerung die Folgen einer neoliberalen Schocktherapie eigentlich noch verkraften? Paradoxerweise sind es heute die Washingtoner Finanzinstitutionen IWF und Weltbank, die sich diese Frge stellen - jene Institutionen also, die die Regierung Garcias mit allen Mitteln bekämpften und damit selbst zum wirtschaftlichen Fiasko beigetragen haben. Sie haben mittlerweile Initiativen ergriffen, um eine weitere Zuspitzung der Krise zu verhindern.

Erinnern wir uns: 1985 war der junge, sozialdemokratisch angehauchte Hoffnungsträger Alan Garcia auf einer Woge der Popularität zum Präsidenten gewählt worden. Von seinem konservativen Vorgänger Belaunde hatte er ein katastrophales wirtschaftliches Erbe übernommen. Ein IWF-Anpassungsprogramm hatte dem Land seit 1982 eine der schlimmsten Depressionen seiner Geschichte beschert. Garcia schrieb den Kampf gegen die „Schuldendiktatur des Imperialimus“ auf seine Fahnen. Er wagte die Konfrontation mit dem IWF und reduzierte einseitig den Schuldendienst seines Landes, ohne sich den üblichen wirtschaftspolitischen Auflagen der Gläubigerbanken und des IWF zu unterwerfen.

Zwei Jahre lang konnte Garcia mit dieser riskanten Strategie politische Erfolge erzielen. Gestützt auf die Anhebung der Massenkaufkraft gelang es ihm, die peruanische Wirtschaft wieder anzukurbeln, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und die Löhne zu erhöhen. Aber Garcia hatte die Rechnung ohne die peruanischen Unternehmer gemacht, die es vorzogen, ihr Glück in Kapitalflucht und Spekulationsgeschäften zu suchen, statt in Peru zu investieren. Die Gewinne des Booms landeten auf ausländischen Bankkonten, oder sie nährten die Spekulation auf dem Dollarschwarzmarkt. Nach dem politischen Scheitern der Bankenverstaatlichung 1987 war Garcia mit seiner Weisheit am Ende. Die Krise begann.

Der IWF hatte Peru 1986 für kreditunwürdig erklärt, die Weltbank und andere Finanzinstitutionen waren seinem Beispiel gefolgt. Das Schuldnerland Peru wurde für seine vorsichtigen reformpolitischen Ansätze mit einer fast hermetischen Kreditsperre bestraft. Als die Krise 1988 eskalierte und ein offensichtlich konzeptloser Alan Garcia ein Maßnahmenpaket nach dem anderen verkündete, gab es mehrmals Verhandlungen mit der Weltbank und dem IWF. Ihre Bedingungen blieben jedoch unverändert: keine Unterstützung, solange nicht die üblichen Auflagen akzeptiert werden; keine Neukredite, solange die aufgelaufenen Zinsrückstände nicht beglichen sind.

Die Wende kam, als die politische Stabilität in Peru ernsthaft auf dem Spiel stand. Als die Guerilla-Organisation Sendero Luminoso Mitte letzten Jahres seinen Aktionsschwerpunkt in die Hauptstadt verlagerte und die Kommunalwahlen Anfang November nach einer Welle von Attentaten nur noch mit knapper Not durchgeführt werden konnten, schrillten in Washington die Alarmsignale. Peru war zum politischen Notfall geworden.

Ende November schloß der IWF mit der peruanischen Regierung überraschend ein „vorläufiges Abkommen“, das sich durch ungewöhnlich weitgehende Zugeständnisse auszeichnet:

-Der IWF wird Peru bei der Beschaffung neuer Kredite behilflich sein; damit sollen die Rückstände bei anderen Finanzinstitutionen beglichen und die Kosten eines mittelfristigen Wirtschaftsprogramms finanziert werden;

-das mittelfristige Wirtschaftsprogramm soll sich an der Reaktivierung der Wirtschaft und der Erhöhung (!) der Reallöhne orientieren;

-die notwendigen Neukredite sollen zu Bedingungen vergeben werden, die die wirtschaftliche Erholung des Landes nicht behindern;

-Peru muß seine Rückstände gegenüber dem IWF vorerst nicht begleichen, lediglich die regulären Zinszahlungen mußten ab Dezember wieder aufgenommen werden.

Zur selben Zeit begann das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, eine groß angelegte Hilfsaktion für die von der Krise am stärksten Betroffenen in die Wege zu leiten. Mehr als 160 Millionen Dollar sollen in den kommenden zwei Jahren als Direkthilfe für die Armen mobilisiert werden. Nach Auskunft von Pedro Mercader, dem Verantwortlichen des Programms in Lima, handelt es sich um ein „soziales Notprogramm, das die Effekte eines wirtschaftlichen Anpassungsprogramms lindern soll.“ Ähnliches wurde 1986 in Bolivien als Ergänzung zum IWF -Sanierungsprogramm durchgeführt. Angesichts der prekären Situation und wohl auch im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen wurde die Hilfsaktion nun schon vor der Existenz eines Wirtschaftsprogramms mit einer „humanitären Phase“ eingeleitet. Noch im Dezember letzten Jahres wurde in den Elendsvierteln Limas mit umfangreichen Lebensmittelschenkungen begonnen.

Ob es dem IWF zusammen mit anderen internationalen Organisationen nun noch gelingt, die soziale Katastrophe, an der er - vorsichtig ausgedrückt - nicht ganz unschuldig ist, zu entschärfen, darf bezweifelt werden. Sicher ist, daß Mario Vargas Llosa und die FREDEMO von der Aussicht auf wieder fließende Neukredite, auf die Reintegration ins internationale Finanzsystem und auf umfangreiche Hilfsprogramme heute schon politisch profitieren. Nicht nur für das peruanische Bürgertum, sondern auch für den IWF und die ausländischen Gläubiger ist Vargas Llosa der eindeutige Vertrauenskandidat. Viele PeruanerInnen, auch aus den armen Bevölkerungsschichten, werden Vargas Llosa wählen, weil sie nur von seiner Regierung die Rückkehr zu geordneten internationalen Wirtschaftsbeziehungen mit neuen Krediten und sozialen Hilfsprogrammen erwarten.