: Zahlenarithmetik
Ungarns stärkste Parteien müssen koalieren ■ K O M M E N T A R E
Noch ist keineswegs erwiesen, ob die ungarische Parteienlandschaft, so wie sie sich in den letzten Jahren der Diktatur zu bilden begann, wirklich den Interessen der Menschen im Lande entspricht. Denn immerhin blieben fast ein Drittel der Wähler den Wahlen fern. Zwar ist es keiner der alten, historischen Parteien gelungen, sich in den Vordergrund zu spielen. Eine Restauration der Verhältnisse vor 1945 ist damit unwahrscheinlich geworden. Doch können die jetzigen Parteien sich eines Großteils ihrer Wähler für die Zukunft keineswegs sicher sein. Erst die Stichwahlen in 14 Tagen werden mehr Auskunft über die Wähler-Parteien -Bindung geben können. Wenn jetzt der Gewinner der Wahlen, das Ungarische Demokratische Forum, jegliches Zusammengehen mit der zweitstärksten Partei, dem Bund Freier Demokraten, ausschließt, handelt es sich dabei immer noch um die Verlängerung des Wahlkampfes. Denn bei den Stichwahlen werden sich erstmals politische Lager formieren müssen. Das UDF setzt auf eine Sammlungsbewegung aller konservativen Kräfte. Indem Parteichef Antall allen Spekulationen über eine große Koalition den Boden entziehen will, versucht er die ungarische Rechte als „Lager“ aufzubauen.
Der zweite Gewinner, der Bund Freier Demokraten, dagegen wird es weit schwerer haben, die Stimmen links von der Mitte an sich zu ziehen. Es ist nicht einmal sicher, daß die Wähler der Jugendorganisation Fidesz sich bei den Stichwahlen zu einem Votum für die Freien Demokraten durchringen. Und die Wähler der ehemaligen kommunistischen Staatspartei werden sich zweimal überlegen, ob sie diejenigen unterstützen, die den größten Anteil an ihrer Entmachtung haben. So ist es kein Wunder, daß die Führung des Bundes Freier Demokraten schon jetzt die Bildung einer großen Koalition favorisiert.
Denn angesichts der gravierenden Wirtschaftsprobleme, so ihr Kalkül, wird auch dem UDF nichts anderes übrig bleiben, als einer Polarisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Denn die Reform in Richtung Marktwirtschaft wird „ihre sozialen Kosten“ haben. Da die ungarischen Parteien bisher über keine Massenbasis verfügen, sondern Wahlvereine sind, die sich nicht auf gesellschaftlich organisierte Bewegungen stützen können - die beiden großen haben nur jeweils 20.000 Mitglieder - sind die Reformen nur mit der größtmöglichen parlamentarischen Mehrheit durchzusetzen. Gerade die geringe Verankerung der neuen Parteien in der Gesellschaft sehen die aus der Staatspartei hervorgegangenen demokratischen Sozialisten als ihre Chance für die Zukunft an. Noch sind die Gewerkschaften desavouiert, weil sie als Teil des alten Systems fungierten. Doch mit den Belastungen, die gerade der Arbeiterbevölkerung zugemutet werden, ist die Chance für die Entwicklung einer neuen Gewerkschaftsbewegung gegeben. So hoffen deren Strategen, daß sich aus der Opposition heraus die Linke wieder zu einer starken Kraft entwickeln könnte. Denn anders als in der DDR, wo die Aussicht auf die DM die Zukunft in rosigerem Licht erscheinen läßt, werden hier die Folgen der Einführung der Marktwirtschaft nicht abgefedert werden können.
Erich Rathfelder
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