„Ja“ zur Wiedervereinigung

■ „Die Deutsche Frage ist nicht unser Problem“ / Der in Israel lebende und in der Bundesrepublik aufgewachsene Publizist Henryk M. Broder kritisiert die Position Michael Lerners / „Ich will die Deutschen endlich beim Wort nehmen“

Henryk M. Broder

Wenn man von falschen Voraussetzungen ausgeht, landet man zwangsläufig bei falschen Schlüssen. Genau das ist Michael Lerner mit seinem Editorial im 'Tikkun‘ passiert. Lerners Argumente gegen die deutsche Wiedervereinigung sind nicht nur deswegen obsolet, weil die beschlossene Sache ist und jeder Widerstand gegen sie dem Versuch gleichkäme, die Zeit für einen Moment aufzuhalten. Eine solche Haltung wäre zwar entsetzlich pathetisch, aber intellektuell durchaus akzeptabel.

Lerner geht noch weiter, er bezieht eine moralische Position, die ihn von der Last der Beweisführung entbindet. Er ist davon überzeugt, daß die Deutschen noch immer dieselben Schurken sind, die sie bis '45 waren, daß sie mit ihrer Vergangenheit nicht gebrochen haben. Er stellt es den Deutschen frei, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, worauf er dann bereit wäre, seine Meinung über sie zu ändern. Er unterstellt, daß die Angeklagten schuldig sind, und fordert sie auf, den Nachweis, daß sie es nicht sind, selbst zu bringen.

Aber was in einem normalen Strafprozeß nicht geht, das geht auch nicht gegenüber einem ganzen Volk, das kollektiv auf der Anklagebank sitzt. Hinzu kommt, daß man nach 45 Jahren keinen Prozeß mehr führen kann, daß es also historisch, rechtlich und politisch unmöglich ist, etwas nachzuholen, das zur rechten Zeit versäumt wurde. Es wäre nach '45 nicht verkehrt gewesen, die Deutschen für 50 oder auch 100 Jahre unter Quarantäne zu stellen, ihnen alle Entscheidungsgewalt, auch die über sich selbst, abzunehmen. Aber daran hatte niemand ein Interesse.

Nun ist es zu spät. Es geht nicht an, die Deutschen als Partner und Verbündete zu behandeln, mit Kanzler Kohl nach Bitburg zu fahren oder ihn die Festrede zu Simon Wiesenthals Geburtstag halten zu lassen, mit ihnen Geschäfte zu treiben und Bündnisse zu schließen, um nach einem halben Jahrhundert zu erklären, man könne ihnen nicht trauen, sie seien politisch nicht reif genug und sollten im übrigen nicht vergessen, daß sie nur auf Bewährung entlassen, das heißt bedingt in die Familie der zivilisierten Nationen aufgenommen worden sind.

Genau das tut Michael Lerner, wenn er schreibt: „Mir mißfällt die Vorstellung, daß die Deutschen sich jetzt ihre Wiedervereinigung verdient haben sollen, daß ihre Strafe als verbüßt gelten soll und sie die Vergangenheit endlich vergessen dürfen.“ Die Deutschen, meint Lerner, müßten noch einen weiten Weg gehen, bis man ihnen die gleichen Rechte einräumen könnte wie jeder anderen Gruppe.

Was heißt das konkret? Was müßten die Deutschen tun oder unterlassen, um Michael Lerner - und nicht nur ihn - davon zu überzeugen, daß sie nicht mehr die Bestien von '33 sind und daß sie, wenn schon nicht unser grenzenloses Vertrauen, so doch wenigstens einen kleinen Bonus verdienen?

Es gibt leider kein Mittel, in die Seele eines Volkes zu schauen, zu sehen, was „die Menschen“ wirklich denken und fühlen. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als die Objekte unseres Mißtrauens danach zu beurteilen, was sie tun. Wenn wir uns schon die Rolle eines Richters und Bewährungshelfers zumuten, dann müssen wir auch zugeben, daß sich die Deutschen (ich meine die Westdeutschen) nicht schlecht geführt haben.

Ich habe lange genug in Deutschland gelebt, um die deutsche Gesellschaft nicht zu idealisieren, ich weiß um ihre Versäumnisse und Unterlassungen, ich weiß, wieviele alte Nazis wieder in den Staatsdienst aufgenommen und wie wenige Kriegsverbrecher bestraft worden sind. Ich weiß, wie unwillig die Deutschen waren, sich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen, und wie sehr bereit, ihre historische Schuld wie eine Frage der Schulden zu behandeln. Aber eine Gesellschaft ist ein dynamischer Apparat, und so banal es klingt, es stimmt: Die Bundesrepublik von 1965 war nicht die von 1945, und die Bundesrepublik von 1990 ist nicht die von 1970. Die Deutschen sind in ihrer großen Mehrheit dahinter gekommen, daß es angenehmer ist, in einer Demokratie zu leben, zu reisen, zu kaufen und zu konsumieren, als zu marschieren, zu kämpfen und für das Vaterland zu sterben.

Kohls dummes und verantwortungsloses Taktieren in der Frage der Oder-Neiße-Grenze sollte niemand darüber hinwegtäuschen, daß diese Frage in der deutschen Öffentlichkeit, auch in Kohls eigener Partei, längst entschieden ist. Niemand, von ein paar Lunatikern abgesehen, wünscht sich, diese Grenze zu verrücken. Wozu auch? Der Grundbesitz, der von den Westdeutschen in Italien, Frakreich, Spanien, Griechenland, Holland und im übrigen Ausland erworben wurde, hat die verlorenen Ostgebiete längst wettgemacht. Kein Deutscher würde sein Grundrecht, nach Mallorca oder auf die Bahamas fahren zu dürfen, riskieren, damit aus Wroclaw wieder Breslau wird.

Auch hier irrt sich Michael Lerner wieder, im Detail wie im großen Ganzen, wenn er schreibt, nach dem Fall der Berliner Mauer hätten die Deutschen Lieder aus dem Zweiten Weltkrieg gesungen, und wenn er prophezeit, die deutsche Wiedervereinigung sei eine tödliche Gefahr für die Welt.

Nach dem Fall der Mauer wurden keine Kriegs-, sondern Karnevalslieder gesungen. Das war allenfalls geschmacklos, reicht aber für eine Anklage wegen ungebrochenen Chauvinismus nicht aus. Und eine Erklärung dafür, warum die Wiedervereinigung eine tödliche Gefahr für die Welt bedeuten würde, bleibt uns Lerner schuldig. Er scheint dermaßen von der zwanghaften Richtigkeit dieser Behauptung überzeugt, daß er eine Begründung für überflüssig hält. Vermutlich von dem Gebrüll der Massen in Leipzig („Deutschland - einig Vaterland“) geschockt, hat er übersehen, daß es seit dem schicksalhaften 9.November '89 keine einzige Massenkundgebung für die Wiedervereinigung in der Bundesrepublik gegeben hat. Bedenkt man, was für einen historischen Einschnitt die letzten Monate bedeuten, muß man zugeben, daß die westdeutsche Öffentlichkeit mit der neuen Lage recht gelassen umgeht.

In der DDR liegen die Dinge anders. Eine Gesellschaft, die mehr als 40 Jahre lang das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern zur Staatsräson erhoben hatte, kann nur in einen Zustand der Hysterie geraten, wenn der Rahmen, durch den sie zusammengehalten wurde, plötzlich auseinanderbricht. Und warum sollte es in der DDR keine Neonazis und keine Antisemiten geben? Nur weil man dort die Illusion eines Arbeiter- und Bauernstaates pflegte? Nehmen wir kommunistische PR für authentische Information?

Michael Lerner irrt ebenfalls, wenn er sagt, daß sich Deutschland bestenfalls symbolisch mit der Nazi -Vergangenheit auseinandergesetzt hat - durch die Zahlung von Reparationen an Israel. Was die einzelnen Regierungen von Adenauer bis Kohl unternommen haben, um aus dem Schatten der Vergangenheit herauszutreten, ist eine Sache, welche Prozesse in der Gesellschaft stattgefunden haben, eine andere.

Niemand, der eine Weile in Deutschland war, wird behaupten können, das Dritte Reich, der Massenmord an den Juden sei kein öffentliches Thema. Ich meine nicht nur die Schulpläne, die wissenschaftlichen Seminare an den Universitäten und die Rituale aus Anlaß der Kristallnacht, ich meine die ständige Präsenz dieses Themas im Alltag. Es ist unmöglich, eine Zeitung aufzuschlagen, im Radio- und Fernsehprogramm zu lesen, ohne über die Themen deutsche Geschichte/jüdische Geschichte/Deutsche und Juden zu stolpern. In keinem Land Europas gibt es ein so starkes Interesse an jüdischer Kultur und Geschichte wie in der Bundesrepublik.

Es ist, zugegeben, oft das Ergebnis schlechten Gewissens, aber es ist immer auch eine Konfrontation der Deutschen mit ihrer Geschichte. In Städten, in denen es nicht genug Juden für ein Minyan gibt, werden alte Synagogen restauriert. Das ist albern und überflüssig, aber wie sonst sollen die verantwortlichen Lokalpolitiker daran erinnern, daß es in diesen Städten mal jüdische Gemeinden gab? Es gibt neonazistische und antisemitische Vorfälle, aber sie bleiben - und darauf kommt es an - nicht unbeantwortet, werden von der Gesellschaft weder gebilligt noch hingenommen. Ein Politiker, der sich einen antisemitischen Fauxpas erlaubt, hat das Ende seiner Karriere besiegelt (mit Ausnahme des Regierungssprechers Klein, der kürzlich vom „Weltjudentum“ sprach und diesen Skandal wohl deswegen überlebt hat, weil der Vorsitzende des Zentralrats der Juden ihm die Absolution erteilt hat). Anzunehmen, daß es in Deutschland keine Neo -Nazis und keine Antisemiten geben sollte, ist mehr als naiv. Allein von ihrem Vorhandensein auf die mangelnde demokratische Reife der Deutschen zu schließen, ist unzulässig.

Michael Lerner möchte, daß die Deutschen zum Beweis ihrer Reue und Umkehr ein Peace Corps aufstellen, dessen Aufgabe es sein soll, weltweit Rassismus und Antisemitismus zu bekämpfen. - Michael, you're kidding. Soll wieder einmal am deutschen Wesen die Welt genesen? Sollen deutsche Friedenskämpfer in die Welt hinausgehen, um den Völkern die richtigen Manieren beizubringen?

Ich fand den deutschen „Verantwortungsimperialismus“, der sich für alles - von Nicaragua bis Palästina verantwortlich erklärte, schon komisch und anmaßend genug. Nun sollen die Deutschen mit noch größeren Aufgaben betraut werden! Aber wer garantiert uns, daß sie dafür reif sind? Und wie läßt sich das Mißtrauen in die demokratische Natur der Deutschen mit diesem Vorschlag vereinbaren? Was ist, wenn die Deutschen nur so tun als ob, und in Wirklichkeit Rassismus und Antisemitismus nicht bekämpfen, sondern befördern werden? Ich bin also, im Gegensatz zu Michael Lerner, den ich als eigenwilligen Denker sehr schätze, für die Wiedervereinigung. Erstens weil es keine vernünftigen Gründe dagegen gibt. Und zweitens weil ich die Deutschen endlich beim Wort nehmen möchte. Ich möchte es erleben, wie sie ihre nationale Frage lösen, und ich möchte sehen, ob nach der Wiedervereinigung die deutsche Frage endlich und endgültig gelöst sein wird.

Ich möchte sehen, wie der wiedervereinigte Alltag sein wird, was aus dem deutschen Traum der letzten 40 Jahre wird, wenn er sich in Wirklichkeit wandelt, wenn keine Kerzen mehr für die Brüder und Schwestern ins Fenster gestellt, sondern die Arbeitsplätze und Wohnungen mit eben diesen Brüdern und Schwestern geteilt werden, wenn für die Sanierung der DDR mehr Steuern bezahlt werden müssen.

Ich möchte es erleben, wie die gesamtdeutsche Gesellschaft mit ein paar hunderttausend Kommunisten umgehen wird, die auch nach der Auflösung der DDR ihre Ideen weiter vertreten werden. Ich möchte es erleben, ob die Richter und Staatsanwälte, die in der DDR ihren Dienst getan haben, ebenso in den gesamtdeutschen Justizapparat übernommen werden wie die Nazi-Richter in den Justizapparat der Bundesrepublik übernommen wurden.

Die alte Frage, die wir Kinder Zions immer dann stellen, wenn ein Wandel der Zeiten ansteht - „Ist es gut für die Juden, oder ist es schlecht für die Juden?“ - kann diesmal leicht beantwortet werden: Die deutsche Frage ist nicht unser Problem. Sehen wir lieber zu, daß wir für unseren Konflikt mit den Palästinensern endlich eine Lösung finden. Es wäre doch zu peinlich, wenn uns ausgerechnet die Deutschen vorführen würden, wie man nationale Fragen mit Ruhe und Verstand aus der Welt schafft.