„Nein“ zur Wiedervereinigung

■ Lerner ist Herausgeber der US-amerikanischen Zeitschrift 'Tikkun‘ (hebräisch: Weltverbesserung), die als Forum gegen die neokonservative pro-israelische Zeitschrift 'Commentary‘ gegründet wurde / Unter Linksintellektuellen der USA ist 'Tikkun‘ eines der meistgelesenen politischen Magazine - und die Positionen von Michael Lerner haben in der politischen Diskussion einiges Gewicht

Michael Lerner

Vielleicht könnte ich die Wiedervereinigungsbegeisterung in den beiden deutschen Staaten mit ganz anderen Gefühlen zur Kenntnis nehmen, wenn es die Deutschen in Ost und West mit der Entnazifizierung ernst gemeint hätten - wenn alle Kinder in der Schule die Geschichte des Antisemitismus hätten pauken müssen, wenn sie begriffen hätten, wie dieser bösartige Rassismus 1933 zu Hitlers Wahlerfolg beitrug, wenn es nur systematische Bemühungen gegeben hätte, Schluß zu machen mit dem typisch deutschen Zwangscharakter, der von den traditionellen Normen in Kultur und Bildungswesen geprägt war.

Aber wenn ich nun vom Wiederaufleben des Nationalismus in Deutschland höre, wenn ich Berichte lese, daß Deutsche um die Trümmer der Berliner Mauer tanzen und dabei Kampflieder aus dem Zweiten Weltkrieg singen, dann muß ich mich doch fragen, wie die amerikanische Besatzungsmacht in Deutschland damals plötzlich den Standpunkt einnehmen konnte, der Faschismus (und der Antisemitismus) sei nicht mehr so wichtig, weil man sich jetzt ganz auf die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus konzentrieren müsse. Traurig, aber wahr: den Amerikanern ging es nur noch darum, die Deutschen für die westlichen Ziele im kalten Krieg zu rekrutieren - an konsequenter Entnazifizierung waren sie nicht mehr interessiert.

Und die Juden in den kommunistischen Parteien Osteuropas hatten auch nichts anderes im Sinn, als ihre internationalistische Haltung zu beweisen. Um nicht in den Verdacht zu geraten, sektiererische Eigeninteressen zu verfolgen, machten sie keinen Versuch, in Ostdeutschland eine ernsthafte Auseinandersetzubng mit dem Antisemitismus zu erzwingen. Da kann es nicht verwundern, daß die Nazi -Ideologie jetzt in Deutschland wieder aufblüht.

Meine Befürchtungen gelten nicht so sehr einer neuen Welle des Antisemitismus in Deutschland - diese Gefahr besteht viel eher in den Ländern Osteuropas. Schließlich haben die Deutschen ja auch so viele Juden umgebracht, daß sie heute in diesem Teil Europas kaum noch einen Anlaß finden könnten, dem alten Wahn zu verfallen. Aber mir mißfällt die Vorstellung, daß die Deutschen sich jetzt ihre Wiedervereinigung verdient haben sollen, daß ihre Strafe als verbüßt gelten soll und sie die Vergangenheit endlich vergessen dürfen - was der Mehrheit ohnehin gleich 1945 gelungen ist.

Angesichts der Ehrenbezeigung für SS-Mitglieder auf dem Friedhof in Bitburg und angesichts der Versuche deutscher Historiker, die geschichtliche Rolle Deutschlands im Zweiten Weltkrieg zum berechtigten Abwehrkampf gegen den Sowjetkommunismus umzudeuten, finde ich, daß diese Gesellschaft es bei weitem noch nicht verdient hat, mit allen Rechten in die Völkerfamilie aufgenommen zu werden. Es geht dabei gar nicht darum, wieviele Jahre die Deutschen nun Buße getan haben, sondern es geht um ihre Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit - um die Frage, ob sich wirklich etwas geändert hat.

Mich erschreckt der Geschichtsverlust, die deutsche Amnesie. Die Fähigkeit, ein traumatisches Ereignis mit aller Macht aus dem Bewußtsein zu verbannen, mag für die Schuldigen wie für die Zeugen momentan entlastend sein. Man sieht es als „Ausrutscher“: „Wir waren außer uns, unverantwortlich - böse Kräfte haben uns beherrscht.“ Aber diese Kräfte wirken weiter im kollektiven Unbewußten eines Volkes, solange die Ursachen nicht aufgedeckt werden. Und wenn ein solches Volk nicht mehr scharf bewacht wird (mit anderen Worten: wenn die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten ihre Hunderttausende von Besatzungssoldaten aus Deutschland abziehen), dann geht vielleicht alles wieder von vorn los. Es gibt ja bereits Neonazi-Gruppen, die im frisch befreiten Ostdeutschland Mitglieder werben. Und es wird noch schlimmer kommen, wenn die Deutschen nicht endlich gezwungen werden, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und sie aufzuarbeiten.

Dabei hätte die Wiedervereinigung durchaus auch in anderem Geiste zustande kommen können: wäre nicht in beiden deutschen Staaten die Vergangenheit verdrängt worden (und zwar mit Hilfe der USA wie der UdSSR, weil es ihnen nur darauf ankam, eifrige deutsche Bündnispartner im kalten Krieg zu finden), dann hätten die Deutschen in Ost und West vielleicht ein tieferes Verständnis für die Gefahren des Nationalismus entwickelt und den Antisemitismus wirklich überwunden.

Dann hätte man die Frage der Wiedervereinigung in aller Bescheidenheit ins Auge fassen können - als Traum von einer neuen, anderen deutschen Nation, die bereit gewesen wäre, die Last zu tragen, das Unrecht wiedergutzumachen, das im Namen des deutschen Nationalismus geschehen ist. In Ostdeutschland geschah nichts dergleichen; in Westdeutschland gab es einen symbolischen Bußakt in Form der Reparationszahlungen an Israel - aber im Bewußtsein und in der Erziehung der Bevölkerung fand kein grundsätzlicher Wandel statt. Man sieht es daran, daß die Rechten heute noch die guten alten Zeiten des vergangenen „Großdeutschen Reiches“ feiern. Und es zeigt sich auch daran, daß deutsche Linke Parallelen ziehen zwischen der Politik Israels in bezug auf die Palästinenser (die von 'Tikkun‘ im übrigen stets kritisiert worden ist) und den Ausrottungsstrategien der Nazis gegen die Zivilbevölkerung - mit der Politik der Gaskammern und Krematorien also. Daß intelligente junge Linke mit moralischem Anspruch auf eine solche Gleichsetzung verfallen, zeigt nur, wie wenig sie von der Naziherrschaft wissen.

Andererseits: muß man nicht jeder Volksgruppe das Recht auf nationale Selbstbestimmung einräumen? Wenn also das deutsche Volk die Wiedervereinigung will: Wer darf sich anmaßen, das zu verbieten? Wir meinen: die nationale Selbstbestimmung ist kein unabdingbares Recht - es kommt auf die Umstände an. Es gibt Situationen, in denen eine Nation die Beschränkung dieses Rechts akzeptieren muß; sie kann es zeitweilig sogar ganz verlieren. So betrachten wir zwar den Staat Israel als legitimen Ausdruck des nationalen Selbstbestimmungsrechts des jüdischen Volkes, aber auch dieses Recht hat seine Grenzen: Es darf nicht dazu dienen, den Palästinensern das Land zu nehmen oder ihnen die nationale Selbstbestimmung in den „besetzten Gebieten“ zu verweigern.

In Deutschland sind aber noch viel härtere Einschränkungen des Rechts auf nationale Selbstbestimmung geboten. Die Welle des Nationalismus, die dieses Land vor rund 45 Jahren beherrschte, hat eine der größten Katastrophen der Weltgeschichte heraufbeschworen - den Zweiten Weltkrieg. Millionen von Menschen sind in dieser aberwitzigen Auseinandersetzung ums Leben gekommen; und auch die Angehörigen unseres Volkes sind millionenfach mißhandelt, entwürdigt und zuletzt systematisch liquidiert worden. Und nun sollen wir einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten unseren Segen geben, die sich auf genau dieses Nationalgefühl beruft? Vielleicht werden wir demnächst mit dem deutschen Begehren nach „Anschluß“ jener Gebiete konfrontiert, in denen eine deutschstämmige Bevölkerung lebt - genauso wurde das deutsche Expansionsstreben auch in den dreißiger Jahren gerechtfertigt.

So geht das nicht. Erst wenn die Generation, die unter dem Naziregime aufgewachsen ist, im öffentlichen Leben des Landes keine Rolle mehr spielt, erst wenn die Deutschen, in Ost und West, durch offizielle Maßnahmen bewiesen haben, daß sie gewillt sind, das Unheil zu büßen und wiedergutzumachen, das sie über die Welt gebracht haben, und alles zu tun, um eine Wiederholung zu vermeiden - erst dann könnten wir über die nationalen Rechte der Deutschen diskutieren. Wie wäre es mit einer deutschen „Friedenstruppe“, die weltweit gegen Rassismus und Antisemitismus eingesetzt wird? Warum gibt es kein spezielles Programm deutscher Wirtschaftshilfe für die Länder, in denen die vertriebenen Juden Zuflucht fanden (zum Beispiel die Sowjetunion und Israel)? Warum gehört es nicht zu den obersten Zielen des deutschen Bildungssystems, alle Vorurteile und alle totalitären Haltungen im Ansatz zu bekämpfen? Warum sagen die Religionsgemeinschaften in Deutschland ihren Mitgliedern nicht klipp und klar, wie die Kirche mit dem Bösen kollaboriert hat? Man könnte diese Liste der Forderungen noch vielfach erweitern. Wenn die Wiedervereinigung Deutschlands im Zeichen der Wiedergutmachung stünde, wäre das eine Überlegung wert. Aber eine Wiedervereinigung, die auf Geschichtsverlust und dem Drang nach wirtschaftlichem Machtzuwachs beruht, bedeutet nur wieder eine tödliche Gefahr für die Welt.

Mit anderen Worten: Jede Nation darf ihre Rechte geltend machen - aber man muß zwischen progressiven und destruktiven Formen des Nationalismus unterscheiden. Jedes Streben nach nationaler Identität, das den grundsätzlichen Wunsch eines Volkes nach Leben in der Gemeinschaft, nach Etablierung gemeinsamer Ideale, gemeinsamer Kultur und gemeinsamen geschichtlichen Erbes zum Ausdruck bringt, hat unsere volle Unterstützung. Aber manchmal wird die nationale Sache zum Instrument der Unterdrückung - man muß sich mit der Berechtigung nationaler Ansprüche sehr genau auseinandersetzen.

Es gibt einen fortschrittlichen Nationalismus, der aus dem gemeinsamen Kampf eines Volkes gegen Unterdrückung erwächst

-so finden sich etwa in dem Nationalgefühl, das die Afroamerikaner im Widerstand gegen ihre Unterdrückung in der weißen Gesellschaft entwickelt haben, Elemente der Menschlichkeit, die für viele Unterdrückte moralischen Halt bedeuten. Auch das Nationalbewußtsein der Juden weist progressive, freiheitliche Züge auf; das zeigt sich darin, daß ihre Geschichte nicht mit heldenhaften Gründervätern beginnt, sondern mit der Befreiung eines Volkes aus der Sklaverei.

Fortschrittlicher Nationalismus schließt ein, daß die Menschen sich für andere Unterdrückte einsetzen können. In der torah heißt es ganz deutlich: „Einen Fremdling sollst du nicht bedrücken. Seid ihr doch selbst Fremdlinge gewesen in Ägypten.“ Aber viele nationale Bewegungen sind eben nicht fortschrittlich. Wie sich nun auch in Israel zeigt, können Unterdrückungsmethoden selbst aus einem progressiven Nationalismus entstehen.

Nationalgefühl ist heute allzuoft nichts weiter als eine Ideologie, die dazu dient, die Menschen Leid und Entfremdung in ihrem Leben vergessen zu lassen. In der modernen Welt bleibt das Bedürfnis nach Anerkennung und Zusammengehörigkeit grundsätzlich unbefriedigt. Das beginnt in den frühen Lebensjahren: Den Eltern fehlt das Verständnis für die eigenen Kinder, sie unterdrücken ihre Subjektivität und Spontaneität. (...) Und die Erwachsenen machen die Erfahrung, daß zwischenmenschliche Beziehungen mehr und mehr von Marktmechanismen bestimmt sind, von Machtstrategien und Konkurrenzverhalten. Die Zerrissenheit nimmt zu verbindliche Moral und grundlegenden Zusammenhalt gibt es kaum noch. Im Leben der Menschen fehlt die Ganzheit und als Ersatzbefriedigung dient die „Nation“.

(...) In dieser größeren Ganzheit sucht man sein Heil, glaubt sich als Bürger respektiert und aufgenommen in eine Gemeinschaft, deren Schicksal dem eigenen fragmentierten Leben Sinn geben soll. Doch im Alltag und im Umgang der Menschen miteinander ist von dieser Gemeinschaft nichts zu spüren... Das Leiden an der Entfremdung können die nationalistischen Traumbilder also nicht dauerhaft lindern... Die Lösung für dieses Problem besteht darin, „Andere“ zu finden, die schuld daran sind, daß die Nation nicht das versprochene Wonnegefühl bringt: die Juden, die Kommunisten, die Schwarzen, die Homosexuellen, die Araber, die Japaner, die Chinesen, die Kapitalisten. All die Wut, die aus dem unerfüllten eigenen Leben erwächst, kann so nach außen gewendet werden, als Aggression gegen die „Anderen“, die angeblich die wunderbare Gemeinschaft zersetzen...

In der Gegenwart funktioniert der Nationalismus fast überall nach diesem Prinzip, und ich wüßte nicht, warum mir das gefallen sollte. Es besteht auch kein Anlaß, gerade jetzt das Wiedererwachen von Nationalbewußtsein in Europa mit Wohlwollen zu betrachten.

Die Vereinigten Staaten haben diese nationalen Bestrebungen gestützt, weil sie auch gegen die Sowjetunion gerichtet waren. Doch allzuoft konnten sich diese nationalistischen Strömungen gegen den kommunistischen Einfluß nur behaupten, weil die alten reaktionären Phantasien nicht an Kraft verloren hatten: also auch der Antisemitismus, der Fremdenhaß und der religiöse Fanatismus.

Diese Seuchen könnten sich wieder ausbreiten, wenn Mittel und Osteuropa nicht mehr unter der Herrschaft der Sowjetunion stehenb. Unzählige nationalistische Gruppierungen würden es als Ermutigung verstehen, wenn den Deutschen die Wiedervereinigung erlaubt würde - jener Nation, die bis in die jüngste Vergangenheit all diese Tendenzen beispielhaft verkörpert hat. Am Ende gelingt es ihnen, Europa wieder in einen Zustand wie vor dem Ersten Weltkrieg zu bringen: zerrissen und verstrickt in zahllose Schlachten zwischen Volksgruppen und Religionsgemeinschaften.

Es geht ja nicht darum, allein gegenüber den Feinden der Juden eine unversöhnliche Haltung einzunehmen. Man muß die gleichen Maßstäbe an jedes Land anlegen, das in seiner jüngeren Geschichte einen ähnlichen Ausbruch von Haß und Gewalt zu verzeichnen hatte. (...)

Auch ich war begeistert, als die Berliner Mauer fiel - weil damit ein symbolischer Schlußstrich unter die Jahrzehnte der kommunistischen Unterdrückung Osteuropas gezogen wurde. Und die Demokratisierungswelle in Europa erfüllt mich mit großer Freude (...), aber ich kann nicht darüber hinwegsehen, daß viele dieser Völker, die jetzt für Demokratie eintreten, einst rassistisch und antisemitisch waren.

Und diese Haltungen könnten unter den künftigen demokratischen Verhältnissen durchaus wieder zum Vorschein kommen. Daß wir in der gegenwärtigen Debatte die Stimme gegen die deutsche Wiedervereinigung erheben, soll nicht zuletzt auch darauf hinweisen, daß alle diese wiedererstarkenden nationalen Bewegungen nur dann unsere Unterstützung finden werden, wenn sie sich von den Traditionen des Rassismus und Antisemitismus in ihrer eigenen Vergangenheit offen und deutlich abwenden.

Man darf den Deutschen die Wiedervereinigung nicht erlauben, wenn sie nicht zugleich die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit führen. Sonst wäre aus dem Fall die traurige Lehre für die Geschichte zu ziehen, daß ein Volk an den entsetzlichsten Verbrechen beteiligt sein kann und doch nach einer gewissen Zeit in die Gemeinschaft der Völker zurückkehren darf, als sei nichts Schwerwiegendes vorgefallen. Wenn ein solcher kollektiver Gedächtnisverlust möglich ist, wenn dies der Schluß ist, den die Welt aus der deutschen Geschichte zieht, dann ist die Vergangenheit nicht gebannt, und wir werden in den kommenden Jahren vielleicht erleben, daß abermals furchtbare Verbrechen im Namen des Nationalismus begangen werden. Vielleicht ist die Wiedervereinigung nicht mehr zu verhindern - wir liberalen Juden haben davor gewarnt!

(Gekürzte Fassung des Editorials der März-Ausgabe von 'Tikkun‘, Übersetzung: Edgar Peinelt)