Vorwärts und nicht mehr essen

■ Landesweite Demonstrationen und Hungerstreik der Erfurter Bürgerwache, um Stasi-Überprüfung der Abgeordneten zu erzwingen / Staatsratschef Gerlach für Generalamnestie für Ex-Stasi-Mitarbeiter / Modrow: Amnestie ist so notwendig wie Rehabilitierung von Opfern

Berlin/Hamburg (taz/ap/dpa) - Landesweite Demonstrationen am heutigen Nachmittag sollen die Forderung der Bürgerbewegung nach einer Stasi-Überprüfung der Volkskammerabgeordneten unterstützen. Initiiert vom Neuen Forum werden die Demonstrationen unter der einheitlichen Losung „Wir demonstrieren wieder! Keine Stasi-Fraktion in der Volkskammer“ stehen.

Über mögliche Beteiligung an den Protestaktionen gegen Verschleppung der Aufklärung mochte gestern in Ost-Berlin niemand spekulieren. Beim Neuen Forum hieß es: „Es gibt keine Rückkoppelung aus den anderen Städten. Die Vorbereitungszeit - seit Montag mobilisieren wir - ist wahrscheinlich zu kurz.“ So habe das Neue Forum Frankfurt/Oder gemeldet, keine Demo „auf die Beine stellen“ zu können. In Berlin beginnt der Marsch um 17 Uhr am Alexanderplatz. Ganz sicher auch die Demo in Erfurt.

Dort begannen gestern drei Mitglieder der Bürgerwache - sie behüteten die Stasi-Akten - einen unbefristeten Hungerstreik, mit dem sie die Überprüfung aller Volkskammerabgeordneten auf eine eventuelle Stasi -Vergangenheit erzwingen wollen. Matthias Büchner vom unabhängigen Untersuchungsausschuß Erfurt, dem früheren Bürgerkomitee, berichtete von Aktenfunden, die bewiesen, daß „eine große Zahl der neugewählten Volkskammerabgeordneten aus dem Bezirk Erfurt Mitarbeiter der Stasi“ gewesen seien. Damit sei die Regierung erpreßbar, und in das Parlament könnten keine demokratischen Erwartungen gesetzt werden.

Mitglieder der Erfurter Bürgerwache begannen außerdem mit der Sicherung der äußeren Zugänge zum ehemaligen Stasi -Gebäude in der Erfurter Andreasstraße. Mit Fertigbetonteilen und Kies wurden die Fenster und Türen verriegelt, da sonst nach Ansicht der Bürgerwache die Sicherung des Objektes gegen Übergriffe nicht mehr gewährleistet werden können.

Bereits am Dienstag hatte die SPD-Fraktion in geheimer Abstimmung und einstimmig beschlossen, in der ersten Volkskammersitzung einen Antrag auf einen Untersuchungsausschuß zur Überprüfung der Stasi-verdächtigen Abgeordneten zu stellen. „Das bedeutet, daß jeder unserer Abgeordneten persönlich bereit ist, sich der Überprüfung zu unterziehen“, kommentierte SPD-Vorstandsmitglied Reinhard Höppner den Beschluß. Auch die gemeinsame Fraktion der grünen Partei und des Bündnis 90 will einen ähnlichen Antrag an das neue Parlament stellen: Das Komitee zur Auflösung des Geheimdienstes solle alle Abgeordneten überprüfen.

Auch DDR-Politiker

für Stasi-Amnestie

Der frühere Chef der Blockpartei LDPD und jetzige Staatsratsvorsitzende, Manfred Gerlach, wünscht Persilscheine für die Stasi-Mitarbeiter. Gerlach, dessen Rücktritt ihn vor Nachforschungen noch schützt, plädierte für eine Generalamnestie. Damit schloß er sich der konservativen Allianz zur Verdrängung der Stasi-Geschichte an. Die Generalamnestie war zuerst von Bundesinnenminister Schäuble angeregt und sodann auch von Kanzler Kohl unterstützt worden. Dessen Meinung nach sollte die Diskussion um die Tätigkeit von DDR-Bürgern für den früheren Staatssicherdienst „im Geist der inneren Aussöhnung“ geführt werden. „Menschliche Tragödien“ dürfe man nicht „vom hohen moralischen Roß“ aus beurteilen. Übereinstimmend sprachen sich Kohl und Schäuble dafür aus, Kapitalverbrechen von früheren Stasi-Leuten von der Straffreiheit auszunehmen.

Politiker von CDU und FDP begrüßten die Anregung Schäubles. Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Gerhart Baum sprach sich allerdings „strikt“ gegen eine Amnestie für frühere Stasi-Mitarbeiter aus. Im Saarländischen Rundfunk sagte er, eine Amnestie habe immer einen Befriedungscharakter und sei immer ein Schlußstrich. Die DDR müsse aber durch die Verarbeitung der Vergangenheit hindurch. Gegen eine Amnestie sprachen sich auch SPD -Politiker, darunter die stellvertretende Bonner SPD -Fraktionsvorsitzende Ingrid Matthäus-Maier und der Rechtsexperte der Sozialdemokraten, Willfried Penner, aus. „Ich halte diesen Vorschlag für unerträglich“, erklärte die SPD-Politikerin in einem Interview. Man dürfe keine Generalamnestie ausstellen, ehe eine Aufklärung in Gang gekommen sei.

Ministerpräsident Hans Modrow, der für das Amt des Volkskammerpräsidenten kandidieren will, äußerte in einem 'Stern'-Interview hingegen die Befürchtung, Politiker der DDR könnten von Personen und Organen anderer Staaten erpreßt werden. Es sei alle mögliche geschehen, um Stasi-Akten vor unberechtigten Zugriffen zu sichern, versicherte Modrow, fügte jedoch hinzu: „Es gibt aber auch Hinweise darauf, daß kurz vor dem 15. Januar, als das Ministerium in der Berliner Normannenstrasse gestürmt wurde, ehemalige Mitarbeiter aus einem ganz bestimmten Dienstbereich in die Bundesrepublik gegangen sind. Und es war ganz bestimmt kein Zufall, daß ausgerechnet deren Räume von den Besetzern gezielt aufgesucht wurden. Sie können es mir nicht verübeln, daß ich da einen bestimmten Verdacht habe. Gerade in diesen Räumen tummelten sich außer Journalisten auch Bürger der Bundesrepublik.“

Der Ministerpräsident lehnte das Angebot aus Bonn ab, wonach sich die DDR-Regierung bei der Erfassungsstelle der Länderjustizverwaltungen Klarheit über belastete DDR-Bürger verschaffen könne: „Mit aller Entschiedenheit: Das geht zu weit. Die DDR ist ein souveräner Staat. Und wir lassen uns diese Souveränität nicht halbieren.“ Modrow äußerte die Befürchtung, daß die DDR jahrzehntelang mit Prozessen zum Thema Stasi-Vergangenheit leben müsse. „Deshalb muß das Parlament einen Modus finden, der die Aufarbeitung nicht ins Unendliche zieht.“ Die Abgeordneten müßten überlegen, ob Gnadenakte und Amnestien nicht genauso erforderlich sind wie die Rehabilitierung von Opfern“, sagte Modrow.