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„Wir müssen das Schweigen brechen“

■ Ein Tabu wird entdeckt: Gespräch mit Dr. Carola Börner, Leiterin des Kinder- und Jugendgesundheitsschutzes und beratende Kinderärztin in Berlin-Mitte, zum sexuellen Mißbrauch von Kindern in der DDR-Familie

Was sich in anderen europäischen Ländern allmählich zu einem Gesellschaftsthema entwickelt, versuchen jetzt auch engagierte Frauen in der DDR an die Öffentlichkeit zu bringen. Sexueller Mißbrauch an Mädchen wurde in der DDR bislang totgeschwiegen, als gesellschaftliches Tabuthema für nicht existent erklärt. Letzte Woche trafen sich im Rathaus Charlottenburg Pädagoginnen, Psychologinnen und Ärztinnen aus beiden Teilen der Stadt, um ihre beruflichen Erfahrungen im Umgang mit sexuell mißbrauchten Mädchen auszutauschen. Die taz sprach dazu mit Dr. Carola Börner, Leiterin des Kinder- und Jugendgesundheitsschutzes und beratende Kinderärztin aus Ost-Berlin.

taz: Wie wurde bisher in der DDR mit dem Thema „sexueller Mißbrauch an Kindern“ umgegangen?

Dr. Carola Börner: Es war kein Thema. Wir wußten zwar von Einzelfällen, glaubten aber vor allem an den Täter aus dem Walde. In 23 Berufsjahren erhielt ich von Erzieherinnen, Fürsorgerinnen oder Müttern so gut wie keinen Hinweis darauf, daß ein Kind in seiner Familie sexuell mißbraucht werden könnte.

Seit kurzem tauschen Sie sich mit KollegInnen aus West -Berlin aus. Was glauben Sie jetzt?

Ich gehe davon aus, daß bei uns genauso viele Kinder von sexuellem Mißbrauch betroffen sind wie in anderen Ländern und daß die Täter aus dem engen Familienkreis kommen. Schockiert war ich darüber, daß Kinder oft jahrelang mißbraucht werden.

Wie erklären Sie es sich, daß das Problem so lange totgeschwiegen und auch von Fachkräften nicht erkannt wurde?

Vielleicht konnten wir uns einfach nicht vorstellen, daß in der „ganz normalen“, nach außen hin intakten Familie solche Dinge passieren. Es gab auch keine offiziellen Denkanstöße oder Veröffentlichungen. Selbst in kinderärztlichen Zeitschriften, die wir aus der BRD beziehen, wird sexueller Mißbrauch nur am Rande thematisiert.

Wie bewerten Sie Ihre neuen Erkenntnisse für die berufliche Arbeit?

Im Nachhinein betrachtet, könnte sexueller Mißbrauch der Schlüssel zu vielen Verhaltensstörungen sein, die wir bei Kindern beobachtet und unter einem anderen Aspekt therapiert haben.

Welche Anhaltspunkte gibt es für sexuellen Mißbrauch?

Es gibt nicht den einen Hinweis, sondern die Symptome sind vielschichtig. Das können schwere körperliche Anzeichen wie Hautkrankheiten oder Schmerzen in Bauch und Unterleib sein, aber auch gestörtes Eßverhalten, Schwierigkeiten der Sprachentwicklung, diffuse Ängste oder Aggressionen gegen den eigenen Körper. Sehr aufschlußreich können Zeichnungen oder Rollenspiele sein, in denen das Kind sich und seine Familie darstellt.

Wo sehen Sie die größten Probleme beim Umgang mit sexuellem Mißbrauch?

Vieles hängt davon ab, ob die Signale der Kinder auch verstanden werden wollen, ob also an die Möglichkeit eines sexuellen Mißbrauchs überhaupt gedacht wird. Zuerst muß sich jede/-r mit dem Thema auseinandersetzen und eine eigene Einstellung dazu entwickeln.

Sie haben jetzt eine Vorstellung vom Ausmaß des sexuellen Mißbrauchs in der Familie. Was werden Sie nun unternehmen?

Ich werde mit meinen Kollegen versuchen, das Thema publik zu machen und anzuregen, daß sich die bestehenden Beratungsstellen mit sexuellem Mißbrauch an Kindern beschäftigen. Die Fürsorgerinnen und Erzieherinnen in der Kinderarbeit müssen sensibilisiert werden, Ärzte, Psychologen und Mitarbeiter der Jugendhilfe mit dem Problem konfrontiert werden. Kontakte zu Schulen und Kindergärten sind wichtig, um prophylaktische Arbeit zu leisten. Das Interesse ist groß, ich erhielt schon viele Anträge von Schulen, um über die Mißbrauchsproblematik zu sprechen.

Was kann getan werden, wenn Anzeichen für einen sexuellen Mißbrauch vorhanden sind?

Es ist wichtig, nicht überstürzt zu handeln. Der Schutz des Kindes steht im Vordergrund, zu schnelles und unkontrolliertes Handeln kann oft schaden. Es muß eine Atmosphäre geschaffen werden, in der das Kind sich äußern kann und in der ihm geglaubt wird. Wir müssen das Gespräch mit der Mutter suchen; für sie ist es oft ein langer Weg, den Mißbrauch zu akzeptieren und sich gegebenenfalls gegen den Partner zu stellen.

Unter den Folgen sexuellen Mißbrauchs leiden Frauen oft ihr Leben lang. Was können sie tun, um die Erlebnisse ihrer Kindheit zu verarbeiten?

Genauso wichtig wie die Arbeit von oben, also über die Institutionen, ist der Zusammenschluß von betroffenen Frauen in Selbsthilfegruppen. In der BRD war dies der erste Schritt zu einer breiteren Auseinandersetzung mit dem Thema.

Welche konkreten Schritte werden Sie als nächstes unternehmen?

Ende April werden wir für den Stadtbezirk Mitte eine Weiterbildung zum Thema „sexueller Mißbrauch in der Familie“ anbieten, zu der wir Kinder- und Jugendärzte, Psychologen im Kinder- und Jugendgesundheitsschutz, Mitarbeiter der Jugendhilfe, der Kinderneuropsychiatrie und der Charite einladen.

Interview: Claudia Haas

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