Ein Hollywoodschinken

■ Verdis „Simon Boccanegra“ wurde in Köln von John Dew und Gottfried Pilz vorgeführt

Die Uraufführung von Simon(e) Boccanegra 1857 in Venedig war eine Pleite. Der Librettist Francesco Maria Piave habe, so Eduard Hanslick, aus dem Schauspiel von Antonio Garcia Gutierez ein Stück ohne „lebendige Charaktere“ und ohne „spannende zusammenhängende Handlung“ geschneidert. Gravierender war wohl, daß Maestro Verdi eine irritierende Hinwendung zur Neudeutschen Schule von Liszt und Wagner erkennen ließ. Das Werk wurde erst liegengelassen, dann umgearbeitet, Arrigo Boito bügelte den Text, und der Komponist sorgte für eine ausgewogene Balance zwischen dem leidenschaftlichen dramatischen Zug seiner frühen Opern und „den feineren Elementen seines späteren Styles“. So wurde das Stück 1881 ein Erfolg beim Publikum. Aber dem Großkritiker Hanslick war's immer noch nicht recht. Prolog und erster Akt schienen ihm auf der Höhe der Zeit, doch vom Rest hielt er wenig: „Was in den beiden letzten Akten folgt, sind fast lauter bekannte Melodien, konventionelle Phrasen, verbrauchte Effekte“.

Das Werk aus der Zone der verbrauchten Effekte zu holen - das erwartete man in Köln von John Dew und Gottfried Pilz. Dabei wurde das Regieteam von den Musikern erheblich unterstützt: James Conlon, gerade 40 Jahre alt und frisch aus den USA importiert, inspirierte das Gürzenich-Orchester zu einer von ihm schon lange nicht mehr gewohnten Präzision; freilich stellen sich beim Zusammenwirken von Graben und Bühne doch erhebliche Probleme ein: Mehrfach stiegen Sänger aus, aber mit Hilfe des sportlichen Elans Conlons mogelte man sich wieder zusammen.

Der Verdacht, daß gerade diese Verdi-Oper der Filmmusik Hollywoods Modell gestanden hat, verdichtet sich angesichts der Kölner Inszenierung. Das Libretto versammelt, auch in den überarbeiteten Versionen, all jene Klischees, aus denen Erfolgsstorys nun einmal gefertigt sein müssen: Eine politische Konstellation, die bis zur Unkenntlichkeit der Parteiziele von Leidenschaft, Ehrgeiz, Eifersucht und Rachegelüsten überformt ist; eine von der Männerwelt begehrte Sopranistin, Tochter im Hause der Fürsten Grimaldi, entpuppt sich als Findelkind - und dann, o Wunder, als Simon Boccanegras Sproß; diese Amelia gerät in Konflikt zwischen Vaterliebe und leidenschaftlicher Parteinahme für den Geliebten Adorno (sowas geht nicht nur in den Gefühlshaushalt ein, sondern ist auch analytisch ein Lehrstück). Maestro Verdi verpaßte dieser Story eine raffinierte Synthese von Bewährtem und einer für ihn neuen Hinwendung zur Ästhetik Liszts und Wagners; doch trotz weiter auslandenden Melodiebögen und der Tendenz zum Durchkomponieren war der Griff in den Fundus des Trivialen hinreichend tief. Die delikate Melange begründet die Vorbildwirkung auf die spätere Filmmusik.

Auf die Sphäre von Film und TV bezog sich die Bebilderung der Oper in Köln von Anfang an. Historismus wurde nicht kultiviert, trotz der Schiebermützen für die Plebejer von 1339 und der Bourgeois-Zylinder für die Patrizier. Mit der Installation von Spezialspiegeln eröffnet Gottfried Pilz korrespondierend dem Dunkel der Geschichte - einen nur sparsam ausgeleuchteten, vieldeutigen Bühnenraum, modifikationsfähig und doch für alle vier Bilder einheitlich strukturiert durch die beiden dominanten Raumdiagonalen. Die Wände unter ihnen mit raffinierten Lichtreflexen deuten zunächst eine finstere Gasse in der Nähe des Hafens von Genua an: roter Widerschein von Feuer, Vorschein des roten Aufruhrs.

Die Lichtreflexe gewinnen ihre Form durch den unterschiedlichen Wölbungsgrad der Kunststoffplatten: Figurationen jedenfalls einer ganz künstlichen Welt, in der irritierend Naturhaftes aufscheint. In anderem Licht und mit einer vorgebauten Terrasse fungieren die beiden diagonalen Wände als Rahmen einer Welt der Reichen - unbeschwert sitzen auf den Spiegelplatten die luftigen weißen Wölkchen, und alles atmet in blau; darunter kräuseln sich die Wellen. Der sich weitende und verengende V-Ausschnitt des Himmels deutet allemal an, was die Stunde geschlagen hat. Indem auch das Firmament verspiegelt wird, reflektiert er die Turbulenzen einer Ratssitzung, die anbrechende Revolte und das schillernde politische Meisterstück des Simon Boccanegra, der vom Plebejer zum Korsarenkapitän und schließlich zum Dogen aufstieg.

Die vielfach als „wirr“ beschriebene Geschichte wird durch die Geradlinigkeit und Konsequenz der von Pilz entworfenen und von Dew mit Bewegung erfüllten Bilder verständlich wie ein Prachtfilm aus den besten Zeiten Hollywoods - und die Obertitel, eingeblendet in Deutsch über dem italienisch gesungenen Werk, tun ihr Übriges.

Grandios das Schlußbild: eine Abschiedsstimmung vor der Weite des Meeres, eine Abendszene der beiden großen alten Herren: rechts der von der Verschwörung zurückgetretene, nach 25 Jahren Verbannung unsäglich verbitterte Fiesco, in der Mitte der bereits vom tödlichen Gift gezeichnete Simone, dem das Szepter entgleitet, links die in hochzeitlichem Putz - zumindest kurzfristig - geeinten Bürger. In der Trostlosigkeit dieser Strandpromenade, die noch Spuren der Verwüstung trägt, scheint die Hoffnung auf, daß nach dem Wüten des Tyrannen, nach dem Bürgerkrieg und den Feldzügen doch noch ein einiges Vaterland erblühe: in den Grenzen der Umsicht, der Milde, des Kompromisses und der Versöhnung. Ein Stück, von dem die Deutschen etwas lernen könnten, wenn sie nur hinsehen und zuhören wollten, statt ungeduldig mit den Füssen für ihre jeweiligen Sofortinteressen zu scharren.

Frieder Reininghaus