Eines Tages im Museum

■ Zur Vermarktungsorgie anläßlich des 100. Geburstages des zu Lebzeiten bettelarmen Vincent van Gogh und zum Anlaß derselben

Stefan Koldehoff

Kommen Sie nach Amsterdam und machen Sie sich selbst ein Bild“, hatte Dirk van der Oord, der Pressesprecher des Rijksmuseums Vincent van Gogh, am Telefon gesagt, „ich fürchte sonst, daß bei all den Berichten, die in den vergangenen Wochen bei Ihnen in Deutschland erschienen sind, bald niemand mehr auf den eigentlichen Anlaß achten wird.“ Der eigentliche Anlaß - das ist die größte Van-Gogh -Retrospektive, die im 100.Jahr nach seinem Tod zeitgleich vom Amsterdamer Van-Gogh-Museum und dem Rijksmuseum Kröller -Müller in Otterlo ausgerichtet wird. 133 Ölgemälde und 249 Handzeichnungen stellen die beiden Museen zwischen van Goghs Geburtstag am 30.März und seinem Todestag am 29.Juli aus. Für die deutschen Feuilletons allerdings scheint in diesen Tagen ein anderer Aspekt den Reiz der niederländischen Ausstellungen auszumachen.

Die Rekordsumme von rund sechs Milliarden Mark, die ein internationales Versicherungskonsortium für die finanzielle Absicherung des Projektes aufbrachte, die Auktionspreise der vergangenen Jahre und nicht zuletzt die wirklich gnadenlose Vermarktung des Van-Gogh-Jahres durch einen niederländischen Sponsor nahmen in der Berichterstattung größeren Raum ein als die Besprechung der Ausstellung selbst. Als dann noch bekannt wurde, daß alle Fernsehrechte an die japanische Fernsehgesellschaft Asahi verkauft worden waren und das unbestätigte Gerücht umging, die Japaner hätten auch für alle Orte, an denen van Gogh gelebt hatte, die Exklusivrechte gekauft, schien die deutsch-niederländische Krise perfekt. Daß es keine deutsche Übersetzung des Ausstellungskatalogs geben würde, brachten findige Köpfe dann auch schnell mit einer Pressemeldung des niederländischen Fremdenverkehrsamtes in Verbindung. Die Behörde hatte herausgefunden, daß ein japanischer Tourist soviel Geld nach Holland bringt wie 200 deutsche. Tatsächlich hat die gerade auf den deutschen Markt gekommene zweibändige Ausgabe aller Van-Gogh-Gemälde in Farbe eines Kölner Verlages eine bereits zugesagte deutsch -niederländische Katalogproduktion wieder zunichtegemacht. Für die deutsche Presse, von inländischen Museen bislang immer an bevorzugte Behandlung gewöhnt, war damit der Ofen aus. Das organisatorische und konservatorisch sinnvolle Kartenbestellsystem, beim Theater- oder Opernbesuch längst zur Selbstverständlichkeit geworden, bildete da in ihren Augen nur noch einen weiteren Affront.

Die Bilder ähneln sich: Schon zu Lebzeiten waren seine Zeitgenossen weit mehr an van Goghs Lebensumständen und an seinem Verhalten interessiert als an seinen Werken. Heute interessieren viele Zeitgenossen mehr die Weinflaschen und Aschenbecher, die im eigens für den Verkauf aus Zelten errichteten „Village van Gogh“ den charaktersitischen Vincent-Schriftzug tragen. Natürlich schaut man sich auch die Ausstellung an - fast noch interessanter aber ist das Drumherum.

Entstanden ist diese Situation durch die Politik der niederländischen Organisatoren. Denn während die unermeßliche Sammlung des Amsterdamer Rijksmuseums Vincent van Gogh von dessen Direktor Ronald van der Leeuw und seinem Team lediglich verwaltet, konserviert, aufbewahrt, wissenschaftlich ausgewertet und ausgestellt werden, besitzt es die rund 300 Gemälde, 600 Zeichnungen und die umfangreiche Korrespondenz des Malers nicht selbst. Die Rechte am Werk des gebürtigen Holländers liegen bei der „Stichting Vincent van Gogh“, in der auch seine Nachfahren Sitz und Stimme haben. Schon immer auch auf die kommerzielle Auswertung ihrer Goldgrube bedacht, hat diese Stiftung nun ihrerseits die „Van Gogh 1990 Foundation“ gegründet, die mit einem Etat von 25 Millionen Gulden das Jubiläumsjahr 1990 gestaltet. Die Doppelaustellung in Amsterdam und Otterlo macht dabei nur einen Teil ihrer Aktivitäten aus. Ein Symposium, eine Van-Gogh-Oper, Festivals und weitere Ausstellungen folgen im Laufe des Jahres. Die Tantiemen fließen dabei jeweils in die Kasse der Stiftung, die auch die Lizenzen für die Jubiläumssouvenirs vergibt.

Das der Stiftung unterstehende Van-Gogh-Museum hat sich von dieser Vermarktungsorgie des bettelarm gestorbenen van Gogh deutlich distanziert. Im eigens umgebauten Museumsgelände an der Paulus-Potterstraat wird neben den Publikationen des Museums und dessen Postkarten ausschließlich der zweibändige Katalog angeboten, der alle ausgestellten Werke in Farbe abbildet und wissenschaftlich kommentiert. Der wissenschaftliche Anspruch der Retrospektive wird auch in der Auswahl der gezeigten Werke deutlich. Allein die Gemälde und Zeichnungen fanden Eingang in die Ausstellung, die Vincent van Gogh selbst in seinen Briefen als wichtig für die künstlerische Entwicklung bezeichnet hat. Aufschlußreich war für diese Auswahl auch, wie der Maler seine Werke formal unterschied. Erste Entwürfe bezeichnete van Gogh meist auch dann nur als Skizze, wenn sie schon in Öl ausgeführt waren. Auch die „Studien“ erscheinen uns heute als ausgereifte Bildkompositionen, bildeten für van Gogh aber nur die Vorstufe zum schließlich fertigen „Tableau“.

Das Frühwerk aus der niederlänsisch-belgischen Periode van Goghs ist in Amsterdam eher dünn vertreten. Ganze zwölf Leinwände repräsentieren die autodidaktischen Anfänge, an deren Ende als Höhepunkt die Kartoffelesser stehen. Van Gogh hatte mit sich selbst um dieses Bild gerungen, fast hundert Bauernköpfe, als Vorstudien in Öl gemalt und schließlich drei Gesamtfassungen fertiggestellt, von denen heute zwei im Amsterdamer, eine im Otterloer Museum sind. Leider wird in der Retrospektive nur die letzte, ausgereifteste Version aus Amsterdam gezeigt. Gerade in dieser ersten Periode der erdtonig-dunklen Bauernmotive und Ernteszenen wäre ein chronologischer Vergleich der künstlerischen Ausdrucksformen interessant gewesen.

Räumlich vom ersten Saal abgetrennt, fällt im zweiten sofort die Farbveränderung auf den ersten Bildern ins Auge, die van Gogh in Paris malte. Die Ansichten der Gemüsegärten auf dem Montmartre und die Blumenstilleben weisen anstelle des flächigen Impasto jetzt eine pointilistische Lebhaftigkeit auf. Durch seinen Bruder, der als Kunsthändler in Paris lebt, lernt Vincent van Gogh hier die Impressionsten kennen und schätzen. Sein Portrait des Farbenhändlers Julien Tanguy, heute in der Sammlung des Athener Reeders Stavros Niarchos, zeigt in Struktur und Farbe deutlich deren Einflüsse, gibt aber im Bildaufbau noch die in Antwerpen gelernte akademische Portraitauffassung wieder.

Mit fast 100 Bildern gebührt dem in nur zwei Jahren in Südfrankreich und Auvers entstandenen Spätwerk van Goghs der meiste Raum in der Amsterdamer Ausstellung. Zwischen 1888 und 1890 entstanden hier Farbsymphonien von unübertroffener Intensität. Am eindrucksvollsten sind dabei nach wie vor die psychologischen Portraits, die van Gogh von seinen Freunden malte. Aus Sao Paulo, Rom und Otterlo fanden dabei endlich drei der vier Fassungen der Madame Ginoux, seiner Wirtin in Arles vor rosafarbenem Hintergrund, wieder zusammen. Die drei Fassungen des berühmten Schlafzimmers in Arles wurden aus Chicago, Paris und Amsterdam zusammengetragen. Die Ehefrau des ebenfalls portraitierten Frachtmeisters Joseph Roulin hängt als La Berceuse in zwei Fassungen nebeneinander, das umrahmte Feld, das van Gogh von seiner Zelle in der Heilanstalt St.Remy aus sah, gleich in sieben verschiedenen Versionen.

Der letzte Raum der Ausstellung weist deutlich auf die Bedeutung van Goghs für die moderne Kunst hin. Ausschließlich auf Querformaten, die er als „Double-squares“ bezeichnete, lebte er in seinen letzten Bildern die Gefühle aus, die die Landschaft und das Wetter in Auvers bei Paris in ihm auslösten. Heute in alle Kontinente verstreut, bilden diese Landschaftsbilder eine unbeschreibliche Einheit und einen furiosen Schlußakkord, den keine Reproduktion vermitteln kann. Van Gogh lebt nur in seinen Originalen.

Hierin, nicht in ihrer kommerziellen Ausbeutung und nicht in Preis-, Versicherungs- oder Zuschauerrekorden liegt der tatsächliche Reiz der Amsterdamer Ausstellung. Kunstfreunden und Kunsthistorikern bietet sich zum ersten Mal überhaupt die Möglichkeit, verschiedene Fassungen desselben Sujets im Original nebeneinander zu studieren. Bilder, die selbst bei van Gogh nie zusammenhingen und längst in die tiefsten Kellertresore verschwunden sind, haben zusammengefunden und wurden wenigstens für kurze Zeit wieder ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt: „Eines Tages werden meine Bilder in den Museeen hängen“, hatte Vincent 1888 an seinen Bruder geschrieben.

Einzig ein Leihgeber mochte den Bitten der Amsterdamer Ausstellungsorganisatoren nicht entsprechen. „Konservatorisch unverantwortlich“, lautete die offizielle Begründung der Neuen Pinakothek München, ihre drei dringend benötigten Hauptwerke Sonnenblumen, Kornfeld unter Wolkenhimmel und Ansicht von Arles nach Amsterdam auszuleihen. Der dortige Direktor, Ronald de Leeuw, zeigte sich denn auch sichtlich verstimmt: „Die Münchner waren die einzigen, die diese Bedenken hatten.“

Was als Gemälde in Amsterdam fehlt, ist mit Sicherheit als Zeichnung in Otterlo vorhanden. Mitten im Heidenaturpark Hooge Veluuwe gelegen, bietet das kleine Museum das ideale Umfeld für van Goghs graphisches Werk. Gut die Hälfte der hier in einem Seitenflügel ohne Tageslicht präsentierten 248 Kreide-, Tuschfeder- und Aquarellzeichnungen vertreten das Frühwerk zwischen 1881 und 1886. Van Gogh begriff seine Zeichnungen als eigenständigen Ausdruck seiner Kunst und nur selten als Vorstudien zu seinen Gemälden. Entsprechend kraftvoll und selbstbewußt wirken die Portraits der Bäuerinnen und Bauern, entsprechend ehrlich seine Landschaftsstudien. Seinem großen Vorbild, dem französischen Sozialromantiker Jean-Francois Millet, wollte der junge Holländer nacheifern; wie Millet wollte er den Alltag der Bauern wiedergeben, ohne ihn zu verklären.

Wer sich vom hundert Jahre alten Mythos zu trennen vermag, der van Gogh seit seinem Tod umgibt, wird in Otterlo dem Menschen van Gogh begegnen, der sich nur über seine Bilder artikulieren wollte und heute vom modernen Kunstbetrieb längst vereinnahmt ist.

Van Gogh-Museum Amsterdam, , Rijksmuseum Kröller-Müller Otterlo, bis 29. Juli, der Katalog kostet 97,50 Gulden.