Vom Provisorium zur Verfassung ?

■ Das „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“

Benjamin Franklin wurde nach dem Verfassungskonvent im Jahre 1787 von einer Dame gefragt, ob sie denn nun eine Demokratie hätten. Woraufhin Franklin antwortete: Ja, wir haben sie, wenn wir sie halten können.Franklins Antwort wollte die Illusion nehmen, daß die Annahme einer Verfassung schon Demokratie garantiert. Verfassungen stiften politische Einheit, doch sie können nicht mehr als politisch-moralische Appelle sein; das heißt Verfassungen bewirken Demokratie, wenn die Subjekte, die sich nach ihr richten, demokratiefähig sind.Ein anderer Effekt dieses Zusammenhangs von Verfassung und Demokratie besteht darin, daß Verfassungen oft über das hinauswachsen, was an Absichten, Intentionen in ihnen Ausdruck fand. Anders gesagt: Die gesellschaftliche Wirklichkeit kann verklärend wirken bezüglich dessen, was die Verfassung für diese Wirklichkeit tatsächlich leistet.

Das trifft für das „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ sicherlich zu.

Im Verständnis der Mitglieder des Parlamentarischen Rates, die am 8. Mai 1949 das Grundgesetz beschlossen, war es ein Kompromiß ein Provisorium, über das niemand vollkommen glücklich war, das, wie der spätere Bundespräsident Theodor Heuss sich ausdrückte, an manchen Stellen Spiegelung der nationalsozialistischen Erfahrungszeit war. Den Anstoß zur Ausarbeitung des Grundgesetzes gaben die westlichen Besatzungsmächte auf den Londoner Sechsmächtekonferenzen am 1. Juli 1948, wo die elf Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder aufgefordert wurden, ihre verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Auf der Grundlage eines gemeinsamen Wahlgesetzes wurde daraufhin ein Parlamentarischer Rat gewählt, der am 1. September 1948 zusammentrat. Der Vorsitzende des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, der Völkerechtler Carlo Schmid, begründete in seinem Bericht über die Erarbeitung des Grundgesetzes vom 6. Mai 1949 den Namen des Verfassungswerkes damit, daß der Parlamentarische Rat nicht imstande war, eine deutsche Verfassung im vollen Sinne des Wortes zu schaffen: „Das ist der Grund, warum schon die Ministerpräsidenten und später auch die Parteien des parlamentarischen Rates das zu schaffende Werk nicht eine 'Verfassung‘ sondern ein 'Grundgesetz‘ genannt haben, und das ist auch der Grund, warum immer wieder zum Ausdruck gebracht worden ist, daß dieses Grundgesetz ein Provisorium sei, das sowohl in territorialer Hinsicht als auch seinem substantiellen Gehalt nach 'offen‘ bleibt. „Wie der Weg zu einer gesamtdeutschen Verfassung, also zu einer Vereinigung Deutschlands auszusehen hatte, konnte freilich nicht gesagt werden. Es mußte eine „Einheit in Freiheit“ sein, darüber waren sich die „Väter des Grundgesetzes“ einig. Eben deshalb betonte Carlo Schmid, daß eine Vereinigung Deutschlands vor der Geschichte sinnlos wäre, wenn nicht die politische, ökonomische und soziale Homogenität des zur Einheit zusammengefügten vorausgesetzt werden kann.

Anschluß nach Artikel 23 widerspricht dem Grundgesetz

Liest man das Grundgesetz im Kontext der Intentionen und Absichten der „Väter des Grundgesetzes“ (und man muß es tun), dann läßt sich die Aussage begründen, daß jeder Versuch, eine Vereinigung Deutschlands über einen Anschluß der DDR gemäß Artikel 23 zu realisieren, dem Geist und Inhalt des Grundgesetzes selbst widerspricht. Mit einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten würde nämlich automatisch der Umstand eintreten, den sich zum Beispiel Heinrich

von Brentano bei der Annahme des Grundgesetzes herbeisehnte: daß die eigene Arbeit, das Grundgesetz überholt ist. Es sei denn, man ginge davon aus, daß mit einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten noch immmer nicht der Umstand eingetreten sei, daß das gesamte deutsche Volk (sprich: das auf dem Boden eines zukünftigen Deutschlands lebende Volk) über seine staatliche Zukunft befinden könne; wenn man also weiterhin Gebietsansprüche geltend machen würde. Aber mit einem solchen Ansinnen würde sich ein künftiges Deutschland ins weltpolitische Abseits stellen.

Ergo: Bei Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa, insbesondere der Oder-Neiße-Grenze, würde eine Vereinigung Deutschlands auf dem Wege des Anschlusses der DDR über den Artikel 23 dem Grundgesetz selbst widersprechen.

... Grundgesetz eine interimistische Angelegenheit?

Andererseits schließt aber auch der Artikel 146 des Grundgesetzes, der festlegt, daß das Grundgesetz an dem Tage seine Gültigkeit verliert, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, eine Ausdehnung des Grundgesetzes für eine Übergangsperiode nicht aus. Jedoch bliebe damit die Frage nach der staatlichen Zukunft Deutschlands noch offen, denn nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann erst dann von einer Entscheidung des deutschen Volkes über seine staatliche Zukunft gesprochen werden, wenn eine Verfassung in Kraft tritt, die vom gesamten deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist (BVerfGE 5, 127).

Somit läßt sich resümieren: Jeder Versuch, die Einheit Deutschlands auf dem Weg eines „kalten“ Anschlusses der DDR zu bewerkstelligen, widerspricht dem Grundgesetz.

Doch auch in anderer Hinsicht erweist es sich als politisch illusionär, wenn man, wie DSU-Vorsitzender Ebeling, darüber sinniert, daß man doch einfach übernehmen könne, was sich in der Bundesrepublik in über 40 Jahren politisch bewährt habe. Zum einen wäre mit der Übernahme des Grundgesetzes noch gar nichts von dem gewonnen, was die bundesdeutsche Gesellschaft an Demokratiefähigkeit tatsächlich schon entwickelt hat. Zum anderen ist zu bezweifeln, ob die Suche nach politischen Mitteln, mit denen die Probleme zu bewältigen sind, die im Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten zu lösen sind, dadurch erleichtert würde, wenn man an eine Verfassung gebunden ist, die in sehr wesentlichen Passagen vom Zeitgeist der späten 40er Jahre gerägt ist. Dabei geht es nicht nur um einzelne Korrekturen beziehungsweise Ergänzungen, sondern das Herangehen, welches im Grundgesetz seinen Ausdruck

findet, ist zu befragen.

... Schlußfolgerung aus der Weimarer Verfassung

Das „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ ist ein historisch geprägter Versuch, politisches Handeln an einen Werte-Rahmen zu binden. Zwar beschränkte man sich - nach der Aussage von Carlo Schmid - bei den Grundrechten, auf denen das Grundgesetz basiert, mit wenigen Aussagen auf die sogenannten klassischen Grundrechte, jedoch ist der Aufbau und Inhalt des Grundgesetzes nicht zu begreifen, wenn man vernachlässigt, daß es eine Schlußfolgerung aus der Weimarer Verfassung und den Erfahrungen der NS-Zeit war. Rudolf Wassermann weist darauf hin, daß das Bekenntnis zur Würde des Menschen, das an der Spitze der Aussagen des Grundgesetzes steht, eine Reaktion auf den Antihumanismus und das Streben des Hitlerfaschismus, die Deutschen zu Härte, Herrenmenschentum und Fanatismus zu erziehen, darstellte. Darüber hinaus sei der Vorsatz, politisches Handeln an Werte zu binden, als Schlußfolgerung aus Weimar zu begreifen. Im Gegensatz zur Formaldemokratie der Weimarer Verfassung, die jeder beliebigen politischen Zielsetzung zur Verfügung stand und auch Hitler ermöglichte, auf demokratischem Wege an die Macht zu gelangen, sollte der neue Staat an ein positives Ziel gebunden sein. Aus diesem Grunde stehen die Grundrechte auch am Beginn des Grundgesetzes, was Carlo Schmid so begründete: „Diese Grundrechte werden im Gegensatz zur Weimarer Verfassung an den Anfang des Ganzen gestellt, weil klar zum Ausdruck kommen sollte, daß die Rechte, deren der Einzelmensch bedarf, wenn anders er in Würde und Selbstachtung soll leben können, die Verfassungswirklichkeit bestimmen müssen.“

Diesem Ansinnen, die Rechte des Einzelmenschen zum bestimmenden Faktor der Verfassungswirklichkeit zu machen, steht allerdings das reaktive, aus einer Defensivposition heraus erfolgte Herangehen entgegen, das im Grundgesetz seinen Niederschlag findet. Es ist ja auch erstmal einfacher, die Forderung nach der Würde, Freiheit und Selbstachtung als historische Schlußfolgerung zu formulieren, diese Forderung zum Ausgangspunkt zu machen, um zu fragen: Was ist politisch notwendig, um ein Leben des Einzelmenschen in Würde, Freiheit und Selbstachtung zu ermöglichen?

Das Grundgesetz ist vor allem ein historisch bedingtes Resümee, weniger ein von Selbstbestimmung geprägter Rahmen für die Suche nach politischen Formen und Mitteln, die ein Leben in Freiheit, Selbstachtung und Menschenwürde ermöglichen. Das ist kein Vorwurf an die „Väter des Grundgesetzes“, sondern eine Bestätigung ihrer Ansicht, mit dem Grundgesetz ein Provisorium geschaffen zu haben.

Rudolf Wassermann kritisiert in seiner Abhandlung „Die Zuschauerdemokratie“ - erschienen 1986 im Econ-Verlag Düsseldorf - die Verfassungswirklichkeit der BRD ob des Vordringens des Werterelativismus, der Mißachtung demokratischer Spielregeln, des Verlustes an Wertorientierungen und so weiter. Vergleicht man nur einige der Phänomene, die Wassermann als charakteristisch für die Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik benennt, mit der Entwicklung der DDR im vergangenen Jahrzehnt, dann läßt sich vermuten, daß die Entwicklung in beiden deutschen Staaten durchaus komplementäre Züge hatte:

1. Ein in Analysen der DDR-Wirklichkeit vermerktes und auch beklagtes Phänomen war der zunehmende Rückzug vieler Menschen ins Private. Diese Erscheinung, im nachhinein leicht als Reaktion auf die Unmöglichkeit, sich politisch selbständig zu betätigen, als Flucht vor dem Druck von Partei und Staatssicherheit zu rechtfertigen, vermerkt Wassermann in bezug auf die BRD auch. So suche der BRD -Bürger die Chancen der Selbstverwirklichung vor allem im privaten Bereich, wobei mit der starken Betonung der individuellen Freiheit vielfach noch keine geststeigerte soziale Verantwortlichkeiet korrespondiert.

2. Durch die Überbetonung der „gesellschaftlichen Anforderungen“ gegenüber den „persönlichen Belangen“, wobei unklar blieb, wie Anforderungen zu gesellschaftlichen wurden, konnten in der DDR-Gesellschaft viele Fragen und Probleme, die Menschen betrafen, gar nicht politische Bedeutsamkeit erlangen, weil sie sehr leicht als den „gesellschaftlichen Anforderungen nicht gemäß“ abgetan werden konnten. Wassermann bemerkt auch in der BRD die Ausgrenzung vieler Themenbereiche aus der politischen Diskussion, weil sie als nicht „parteipolitikfähig“ bestimmt werden.

3. Das Fehlen von Möglichkeiten, daß der Bürger sich im Staat behaupten kann, ist für die DDR- und BRD- Wirklichkeit gleichermaßen charakteristisch.

4. Das Festschreiben von Werten, wie es für das Grundgesetz und den „real existierenden Sozialismus“ kennzeichnend ist, führt ohne Vorrichtungen, wie ein Wertewandel als gesellschaftlicher zu bestimmen ist, zu einer nur graduell unterschiedlich ausgeprägten Ausschaltung der Selbsterkenntnisfunktionen der Gesellschaft.

All diese Erscheinungen legen es doch nahe, gemeinsam nach politischen Formen und Mitteln zu suchen, um besser als bisher die Freiheit, Würde und Selbstachtung des Einzelmenschen zum Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu machen.

Doch ist zu bezweifeln, ob das „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ wirklich einen geeigneteten verfassungsmäßigen Rahmen für eine solche gemeinsame Suche darstellen würde. Eher ist anzunehmen, daß das Grundgesetz wegen seines defensiven Charakters, wegen des Festschreibens von Grundwerten und des Prinzips der Repräsentativdemokratie, womit verankert wird, daß das Volk in seiner Gesamtheit nur bei Wahlen und Abstimmungen handelnd in Erscheinung tritt, ein Hindernis auf dieser Suche darstellen würde.

Mathias Wendt