„Eine Generation der produktivsten Köpfe“

■ Auszüge aus der Laudatio von Oskar Negt zur Verleihung des Ehrendoktortitels der Uni Bremen an Alfred Sohn-Rethel am 9. Februar 1988

Lobende und ehrende Erklärungen habe ich schon häufig abgegeben. Der Mühe, dem offensichtlich hohen Sinn einer Laudatio einen Inhalt mit Augenmaß zu verleihen, unterziehe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben. Meine Unsicherheit beginnt am Anfang. Hier soll ein Denker geehrt werden, dessen Lebenswerk fast ein Jahrhundert erfaßt. Was für ein Jahrhundert! Kaum eine geschichtliche Tragödie, die sich Menschen in ihren perversesten Phantasien haben ausdenken können, hat diese Realtität ausgelassen.

So stellt sich mir die beunruhigende Frage, mit welchem Recht ich Urteile über ein solches Leben fällen kann. Was mir den Atem verschlägt, ist das Problem, wie ein Mensch mit wachen Sinnen und einem lebendigen Verstand bei diesen Brüchen, Zerstörungen und Verdrehungen seine moralische und geistige Unversehrtheit bewahren kann - so lebendig

vor uns sitzend, als hätte er die Zukunft für sich...

Man sehe sich doch einmal die Gegenwartsdenker an, welche die Moderne, diesen äußerst widerspenstigen, mit Haken und Ösen versetzten Prozeß, längst hinter sich gelassen zu haben meinen, wie sie ihre theoretische Identität manchmal nach Jahresfristen wechseln; und einige gibt es unter ihnen, die lernen noch schneller. Wenn sie ihr fünfzigstes Lebensjahr erreichen, werden sie die gesamte Klaviatur möglicher thoretischer Positionen, die es in den vergangenen zwei Jahrhunderten gegeben hat, mit Überzeugung durchgespielt haben, ohne daß sie unter dem Gefühl litten, mit ihrer Identität sei vielleicht etwas nicht ganz in Ordnung. Wo aber der kollektive Gedächtnisverlust zu den bedeutendsten Signaturen der intellektuellen Vereldendung einer Protestkultur gehört, entsteht neues Vertrauen zu Menschen, die langsam lernen und buchstäb

lich Trauer bei der Verabschie dung eines Gedankens, den sie einmal gefaßt haben, empfinden. Sohn-Rethel ist einer von diesen langsam und schwerfällig Lernenden, übrigens ohne sich dessen zu schämen, sondern es freimütig zu bekennen und damit den Blick frei zu bekommen für das wirklich Neue, das im Alten heranwächst...

Was hält eine Gesellschaft im Innersten zusammen; worin bestehen die Konstitutionsbedingungen einer Objektwelt, in der Zusammenhang entsteht, obwohl Klassenkämpfe, die Selbstzerrissenheit des menschlichen Daseins, Krieg und Völkermord doch eher auf zentrifugale Kräfte der Zerstörung und des Auseinanderlaufens hinweisen. Wie sich Drohung und ökonomisches Wachstum unter Bedingung anarchischer Warenproduktion im Kapitalismus ... herstellen, war ja das entscheidende Problem von Marx im Zweiten Band seines Ka

pital, als er die sogenannten Reproduktionsschemata ausformuliert. Es muß da Kräfte bei den Menschen geben, die durch Herrschaftsapparate und Aneignungskampf von ihren assoziativen Bindefähigkeiten nicht völlig zu trennen sind. Aber für die gesellschaftliche Radikalisierung des Synthesis -Problems bildet nicht Marx, sondern Kant die entscheidende philosophische Provokation. Sohn-Rethel ist kein treuer Gefolgsmann Kants, aber er hat seinem Denken die Treue gehalten...

Wenn ich darüber nachdenke, wo und wann ich den Namen Sohn -Rethel zum ersten Mal gehört habe, so fällt mir eine dumpfe Eckkneipe nahe der Bockenheimer Warte in Frankfurt ein, wo Hans-Jürgen Krahl und seine politischen Freunde auf das Bündnis von Intellektuellen und Arbeitern regelmäßig anzustoßen pflegten. Auch ich besuchte diese Kneipe zuweilen; Krahl zog mich eines

Nachts ins Vertrauen und stelle mir die Frage: „Weißt Du eigentlich, wer der originellste marxistische Kopf der Gegenwart ist?“ Ich rätselte, nannte alle, die ich kannte. Er machte dem Spiel ein Ende und sagte: Sohn-Rethel. Ich war verblüfft: Merkwürdig, ich kannte noch nicht einmal den Namen. „Dann lies seine Vorträge an der Humboldt-Universität über Warenform und Denkform.“ Da wir gerade beim Trinken waren, brachten wir auf Sohn-Rethel einen Toast aus - mit einem doppelten Doppelkorn, der typischen Krahlschen Maßeinheit. Es mag 1967 gewesen sein...

Wer das Glück hat, 90 Jahre alt zu werden und das sprichwörtliche biblische Alter erreicht hat, kann den kleinen Ausgleich für die Jahrzehnte verweigerter Anerkennung und erlittenen Unrechts noch zur Kenntnis nehmen. Aber was ist das für eine Art und Weise, mit den vom Faschismus

vertriebenen Intellektuellen umzugehen, wenn Anerkennung vom Gnadenstand des Weisheitsalters abhängt, also einem biologischen Tatbestand zu danken ist?

Irgendetwas am Neuaufbau der Universitäten nach 1945 im Teilstaat der Bundesrepublik muß so grundsätzlich falsch gelaufen sein, daß wohl die, die kräftig mitgemacht hatten, und auch die vielen anderen, die mit eingezogenem Kopf die Zeit überlebten, nach dem Ende des Schreckens sich selber einreden konnten, sie seien im Widerstand gewesen - und nicht die, die vertrieben wurden. Es waren nicht einzelne, sondern es war eine ganze Generation der produktivsten Köpfe, die Deutschland verlassen mußte: Adorno, Horkheimer, Bloch, Kracauer, Walter Benjamin, Lukacs und viele andere, die weniger bekannt sind. In diese Gesellschaft von produktivsten Köpfen des 20. Jahrhunderts gehört Sohn -Rethel.

Oskar Negt