Mit 18 Jahren ins Altersheim

■ DDR-„Lebenshilfe“ für geistig Behinderte und ihre Eltern gegründet / Eltern bemängeln fehlende Pädagogen und Heime / Die Zustände sind menschenunwürdig / Um Freizeitgestaltung und Ausbildung kümmerte sich bislang niemand / Viele mußten lebenslang zu Hause bleiben

Minderheiten, wie geistig behinderte Menschen, wurden im Sozialstaat DDR häufig ausgegrenzt - dies zeigte sich am Wochenende am Rande der Gründungsversammlung der „Lebenshilfe DDR“ in Ost-Berlin: Betroffene Eltern behinderter Menschen berichteten über ihre Erfahrungen mit Staat und Gesellschaft. „Ein besonderes Ereignis stand bevor, die Geburt eines Kindes, kurz gesagt eine freudige Erwartung. Und dann, welch eine Bestürzung, Kummer, Aussichtslosigkeit, ein behindertes Kind ... diese Hilflosigkeit, dieses Nichtwissen, wo hole ich Hilfe... Wo blieb die Unterstützung in dieser für uns so grenzenlos belastenden Zeit?“ - So beschrieb Rita Heiduschka, betroffene Mutter und Vorsitzende der mit Unterstützung der West-„Lebenshilfe“ neugegründeten „Lebenshilfe DDR“ ihre Gefühle bei der Geburt ihrer behinderten Tochter.

Die mangelhafte Fürsorge für geistig Behinderte in der DDR zog sich von der Geburt über das ganze Leben hin: In den wenigen vorhandenen Heimen und Werkstätten seien „vom Zootierhändler bis zum Elektriker“ alle Berufsgruppen als Personal eingesetzt worden - aber kaum ausgebildete Sonderpädagogen, so Rita Heiduschka. „Es hat keiner das Recht, einem Kind die Bildung abzusprechen, nur weil er meint, daß es nichts mitkriegt“, so eine andere betroffene Mutter. In den Heimen seien getrennte Toiletten für Männer und Frauen selten. Autistische Menschen, die unter Reizüberflutung leiden, hätten häufig nicht einmal Einzelzimmer bekommen. Eine Freizeitgestaltung für die Behinderten, die aus eigener Initiative nichts machen können, sei kaum vorhanden.

Wer jedoch überhaupt einen Platz in einem speziellen Heim für geistig Behinderte bekam, hatte schon Glück: Die Regel war, daß geistig Behinderte alleine von ihren Eltern betreut werden mußten. So wurde ein Fall geschildert, in dem „eine 80jährige Mutter ihren erwachsenen Sohn zu Hause betreuen mußte“, weil kein Heimplatz frei war. Dort, wo die Eltern ihre Kinder nicht mehr betreuen konnten, wurden sie häufig in geschlossene Psychiatrische Anstalten oder in Altersheimen eingeliefert. Rita Heiduschka mußte zum Beispiel in die Hauptstadt umziehen, weil ihre damals 17jährige Tochter sonst mit 18 Jahren in ein Altersheim hätte gehen müssen - in ihrer Heimatstadt war kein Heim- und Werkstattplatz für geistig Behinderte frei. „Mit den immer komplizierter werdenden wirtschaftlichen Voraussetzungen verschärften sich auch die Angriffe auf jeden Widerspruch in diesem Land“, so Rita Heiduschka. Die zuständigen Behörden hätten nicht die Interessen der Betroffenen, sondern „sogenannte gesellschaftliche Interessen“ vertreten.

Öffentliche Statistiken über die Defizite waren seit 1983 in der DDR nicht erlaubt: aber alleine in einem Landkreis im Harz leben über 50 Behinderte, die bisher keinerlei Förderung durch den Staat erhalten haben, berichtete ein betroffener Vater. Jetzt müsse „von unten“ zunächst eine Bestandsaufnahme durchgeführt werden, um dann eine angemessene Betreuung der geistig Behinderten zu gewährleisten.

Rochus Görgen