„Die Täterin ist immer die Diktatur“

■ Vier Jahre lang folgte die DDR-Autorin Helga Schubert den Spuren von Frauen, die im Nationalsozialismus andere Menschen bei der Gestapo denunzierten und damit dem Tode auslieferten. Ihre „Parabeln des Verrats“ zielen aber auch auf die DDR. TäterInnen sind auch Opfer

taz: Sie nennen ihr Buch eine verschlüsselte Botschaft. Sie wollten die Auswirkungen eines totalitären Staats auf das Verhalten seiner Bürger und Bürgerinnen beschreiben, am Beispiel der politischen Denunziation im Nationalsozialismus. Haben Sie damit auch die DDR gemeint?

Helga Schubert: Ja, ... Ja!

Ironie der Geschichte: Als Sie das Buch beendet hatten, war auch der Realsozialismus in der DDR zu Ende. Und die politische Denunziation und das Spitzelwesen ist nun eines der belastendsten Themen in Ihrer Gesellschaft. Welchen Beitrag kann Ihr Buch zur aktuellen Diskussion leisten?

Daß man Verständnis bekommt für Verräter, Veräterinnen, für Spitzel. Denn man muß sehr viel mehr die Diktatur als Täterin sehen, anstatt sich an ihren Opfern zu rächen.

Plädieren Sie für Entlastung oder Amnestie derjenigen, die aus Überzeugung, Vergünstigung, aus Schwäche oder sonstigen Gründen andere denunziert und bespitzelt haben?

Amnestie oder Nicht-Amnestie ist ein ganze wichtige Frage, die wir jetzt unmittelbar lösen müssen. Ich habe mir selbst noch kein endgültiges Urteil gebildet. Nachdem die Diktatur bei uns zusammengebrochen ist, sehe ich diese Spitzel und Verräter aber in milderem Licht. Ich habe dieses System sehr gehaßt, und jetzt, wo es zu Ende ist, möchte ich in einer Gesellschaft leben, die nicht weiter vergiftet ist. Und ich merke mit Erstaunen die Bereitschaft in mir, diesen Leuten zu verzeihen. Wenn man sie aber nicht amnestiert, muß man damit rechnen, daß sie wie giftige Kröten weiter wirken. Man muß also Verhältnisse schaffen, in denen diese Leute nicht mehr gefährlich werden können. Und ich weiß nicht, ob es für den sozialen Frieden und eine demokratische Gesellschaft gut ist, jahrelang Prozesse zu führen. Die Verantwortlichen, etwa für die Planung von Internierungslagern, würde ich schon gern vor Gericht sehen. Aber Studenten zum Beispiel, die durch Erpressung dazu gebracht wurden, ihre Kommilitonen zu verraten, die würde ich lieber in Selbsthilfegruppen schicken.

Menschen, die aus politischer Überzeugung, Geltungssucht, Geldgier, Dummheit, Geschwätzigkeit, Rachsucht oder Angst, vergleichbar also den Täterinnen in Ihrem Buch, andere Leute dem Staatssicherheitsdienst ans Messer geliefert haben, würden Sie die hier und heute laufen lassen?

In meinem Buch schildere ich nur Fälle, die mit dem Tod endeten. In der DDR aber war der Verrat für den Verräter in den letzten Jahren nicht mehr tödlich. Aus strafrechtlicher Sicht ist dieser Verrat also nicht so schwerwiegend. Sie können ja selbst Honecker nicht dafür verurteilen, daß er 16 Millionen Menschen eingemauert hat. Dafür gibt es keine Paragraphen. Und es gibt auch keinen, der verbietet, über 6 Millionen Menschen Akten anzulegen. Was bei uns passiert ist, ist ein moralisches Problem.

Wie stehen Sie zur Forderung, daß alle Volkskammerabgeordneten und Regierungsmitglieder hinsichtlich ihrer Stasi-Aktivitäten überprüft werden wollen?

Wer jetzt ein Parteiamt oder ein Volkskammermandat angestrebt hat, der müßte zu einer Überprüfung bereit sein. Ich habe neulich von einem guten Kompromiß gelesen. Danach soll, als Übergangsregelung, jeder Volkskammerabgeordnete einen Fragebogen über seine nebenberufliche Tätigkeit ausfüllen und eidesstattlich erklären, daß er nicht für den Stasi gearbeitet hat. Die, die mitgearbeitet haben, kann man bitten, ihr Mandat zurückzugeben. Denn die sollen sich aus der Politik zurückziehen. Das kann man innerhalb der Fraktion ohne großen Gesichtsverlust regeln.

Es ist doch unwahrscheinlich, daß einer oder eine, die sich ein politisches Mandat hat übertragen lassen, jetzt freiwillig zugibt, daß er oder sie für den Stasi gearbeitet hat.

Es ist ja noch nicht jeder persönlich gefragt worden: Hast du für den Stasi gearbeitet? Man muß Menschen erlauben, ihre Menschenwürde zu behalten. Ich habe 23 Jahre in der Therapie gearbeitet und weiß, daß Leute, deren Fluchtdistanz überschritten wird, die man so in die Ecke treibt, daß sie nicht mehr fliehen können, vorwärts gehen und beißen, also gefährlich werden.

Ich habe über Gysi gehört, daß er zu seinen Leuten gesagt hat, sie sollten sich vertrauensvoll an die Fraktionsleitung wenden. Und wenn jetzt ein Abgeordneter so eine Erklärung unterschreibt, und dann werden Stichproben gemacht oder alle überprüft, dann muß er damit rechnen, daß er wegen Meineids vor Gericht kommt. Das ist dann strafbarer als eine Mitarbeit bei einem Staatssicherheitsdienst zu einer Zeit, in der das Denunzieren und Bespitzeln gar nicht strafbar war. Das halte ich für eine salomonische Lösung. Wir können doch jetzt, nach 40 Jahren Diktatur, nicht monatelang eine Regierung lahmlegen, bloß weil der Stasi immer noch Gift sprüht. Irgendwie muß man sich doch gegen die Torpedierung der Demokratisierung wehren.

Aber muß dieses Spitzelsystem, das sich wie ein Rhizom durch diese Gesellschaft gezogen hat, nicht wenigstens mit Namen und Adresse offengelegt werden, damit es nicht ungebrochen in diese „neue Gesellschaft“ hineinwirken kann? Es gibt ja deutliche Hinweise, daß der Stasi weiterarbeitet.

Die wirklich schuldigen Leute sind entweder zu verwirrt oder so clever, daß sie ihre eigene Akte haben verschwinden lassen; oder sie sind inzwischen im Westen und geben dort ihr Wissen preis und können daran auch noch verdienen. Diese Leute sind wieder auf der Siegerseite. Die anderen, die kleinen Täter, das sind doch Millionen Opfer! Sie werden versuchen, sich eine neue Existenz aufzubauen. Man muß alles tun, damit sie nicht mehr schädlich werden können.

Wie stellen Sie sich das konkret vor, wenn Sie anstatt für Offenlegung für Amnestie, für den Schlußstrich sind.

Ich brauche für mich keine Amnestie. Aber ich habe ein Interesse daran, in einer nicht weiter vergifteten Welt zu leben. Wenn diese Leute keine Macht mehr über andere ausüben können, dann sind sie auch nicht mehr gefährlich. Wenn ich jetzt höre, daß sich dieser Stasi-Mann erschossen hat und jener keine Arbeit gekommt, wenn mir ein junger Mann im Zug erzählt, daß er bei der Stasi war und jetzt entlassen wurde und fragt, ob ich ihn verachte, dann habe ich Mitleid. Ich will damit sagen, in dem Maße, wie ich durch meine Arbeit begreifliche Motive für Verrat und Erpreßtwerden kennengelernt habe und diese Menschen als Personen gesehen habe, in dem Maße habe ich Verständnis bekommen. Ich habe gesehen, daß die Täterin immer die Diktatur ist. Es sind die Verhältnisse, die die Leute in Versuchung bringen. Ich persönlich bin nicht bereit, diese Leute jetzt zu verurteilen. Ich habe keine Rachegefühle. Alle Leute, die ich kenne, sind einmal vom Sicherheitsdienst angesprochen und um Mithilfe gebeten worden.

Sie auch?

Ich auch. Ich hatte 1978 beim Polizeipräsidium eine Eingabe gemacht, weil mein Sohn im Rahmen seiner kirchlichen Jugendarbeit datenmäßig erfaßt worden war. Es war eine Gruppe von elf Jugendlichen. Eine Woche später meldete sich ein Polizeioffizier zu Besuch an. In der Wohnung sagte er dann, daß er beim Ministerium für Staatssicherheit arbeitete. Ich wollte die Negative von den Fotos meines Sohnes. Er sagte: Die bekommen Sie nicht. Meine ganze Familie sei überprüft worden und wegen meiner sehr guten Kontakte zur Opposition, zur evangelischen Kirche sei ich die geeignete Person, für sie zu arbeiten.

Was hat er geboten?

Zunächst nichts, er hat mich nur gelobt, indem er mich für sehr geeignet befand. Ich blieb ganz höflich und habe ihn nicht etwa rausgeschmissen. Ich wußte ja bereits, wie diese Leute arbeiten, ich hatte jahrelang Patienten in der Therapie, die auch Opfer geworden waren. Als ich erklärte, daß ich nicht für sie arbeiten würde, stand er ganz abrupt auf und sagte: Wenn wir wollen, müssen Sie ja doch kommen. In dem Moment war ich erschrocken, denn das klang so siegessicher. Er hat mir dann noch gesagt, daß ich nicht über den Besuch sprechen dürfte. Ich habe aber allen anderen sofort Eltern Bescheid gesagt. Ich habe es auch den Kollegen erzählt. Dadurch, daß man es sofort allen sagt, fällt ja das erste Motiv für Erpressung weg.

Mir haben sich viele anvertraut, die für den Sicherheitsdienst gearbeitet haben. Einer hat mir erzählt, daß ihm ein Studienplatz angeboten wurde. Er war sehr gut im Abitur und hätte seinen Studienplatz auch ohne Stasi bekommen. Er hat aber für diese Leute ab und zu gearbeitet und hatte furchtbare Angst, nein zu sagen, weil die ihm gedroht haben: Wir sagen es deinen Kommilitonen. Das Problem ist immer, nach dem ersten Mal wieder rauszukommen. Darum muß man in Diktaturen alle Leute dazu ermutigen, daß sie sofort über Anwerbeversuche berichten. Wer sich erpressen läßt, ist drin. Es waren immer die Schwachen, die keinen Rückhalt hatten und den beim Stasi fanden. So ein Führungsoffizier ist doch über Jahre ein verläßlicher Dauerkontakt, wenn man keine anderen festen Bindungen hat.

In meinem Buch ist es genauso. Es waren immer nur Frauen, die einsam waren, nicht richtig zu sich gestanden sind, ohnmächtig waren...

Warum haben Sie nur Fallgeschichten ausgewählt, bei denen Frauen die Täterinnen waren. Sind sie besonders exemplarisch?

Erst einmal hat dies literarische Gründe. Ich wollte Varianten eines einzigen Problems und nicht noch die Geschlechterfrage mit drin haben. Ein wichtiges Motiv waren aber auch bestimmte Tendenzen innerhalb der DDR-Literatur und ihre Rezeption außerhalb der DDR im Bezug auf das weibliche Schreiben. Ich habe mich immer etwas geärgert über diese Bevorzugung von Frauen in der Literatur von seiten einiger meiner Kolleginnen: daß Frauen besonders authentisch sind, subjektiv, daß nur sie die richtigen Gefühle haben und sie ausdrücken können gegenüber den kalten Männern. Das empfand ich als ausgesprochen einseitig und fast schon präfaschistisch. Das war Mutterkult für mich. Dagegen wollte ich auch angehen. Ich wollte Frauen wieder zu normalen Menschen machen. Ich glaube, daß ich sie dadurch auch ernster nehme. Ich bin ein kleines Stück erwachsener geworden, weil ich jetzt weniger von Frauen erwarte, sie als realere Menschen sehe, nicht nur als Mütter. Nun ist es bei mir zwar ins Negative geschlagen, aber ich wollte Frauen auch in ihrer Destruktivität zeigen, nicht immer als Opfer dieser schlimmen Gesellschaft. Ich habe durchaus Achtung vor Leuten, die destruktiv sind, weil die sich auf ihre Weise wehren, auch wenn es die falsche Weise ist. Mich interessiert, wie Menschen mit dem Destruktiven in sich klarkommen, das ist viel schwerer als mit dem Guten. Mich hat dieser Vernichtungswille interessiert und wie er sich hinterher vor Gericht verteidigte.

Unterscheiden sich Verräterinnen von Verrätern?

Ich haben durch meine Aktenstudien herausgefunden, daß der Verrat von Männern meist institutioneller war, als Blockwart oder so. Frauen hatten diese Macht im Faschismus nicht. Da kam der Verrat aus einer völlig unvermuteten Ecke. Die Opfer wähnten sich in Geborgenheit. Auch ich würde Verrat bei Frauen weniger vermuten. Ich habe zunächst gedacht, von Frauen käme eher Solidarität.

Sie wollten also beweisen, daß Frauen auch Täterinnen sind und hofften doch gleichzeitig, sie würden nicht auf so viele stoßen?

Genau. Ich kann nur schreiben, wenn ich zu einem Problem keine eindeutige Haltung habe. Ich interessiere mich immer für Probleme, zu denen ich eine ambivalente Haltung habe. Ich habe eine starke ambivalente Haltung zu Frauen, zu ihrer Geborgenheit, ihrer Verläßlichkeit. Ich habe Vertrauensverhältnisse zu Frauen auch schon ganz stark belastet und festgestellt, daß sie nicht halten. Bei mir sind das übersteigerte Wärmeansprüche, die ich an Männer von vorneherein gar nicht haben würde. Dieses Buch ist so ein Testfall. Ich habe in den Akten auch immer nach Menschen gesucht, die nicht verraten haben. Die waren dann meine Hoffnungspunkte. Und dann habe ich mit immer größerer Genauigkeit diejenigen verfolgt, die das Vertrauen anderer mißbrauchten. Das war eine Warnung.

Sie schreiben, Sie hätten den Verrat wie unter dem Mikroskop betrachtet und dabei Strukturen entdeckt, die sich immer wiederholten. Welche meinen Sie?

Bei den Opfern habe ich entdeckt, daß sie alle die Diktatur und die Frauen unterschätzt haben. Sie waren nicht vorsichtig genug. Sie haben leichthin ihre Meinung gesagt. Bei den Täterinnen habe ich festgestellt, daß sie sich alle nicht direkt mit dem Opfer auseinandergesetzt haben.

Sie haben Teile ihres Buches schon vor Jahren auch in der DDR gelesen. Was bekamen sie da für Reaktionen?

Manchmal haben die Leute bei meinen Lesungen gesagt: Das ist genau wie bei uns. Und da habe ich mich natürlich gefreut und gedacht, wie wach die alle sind.

Das Gespräch führte Ulrike Helwerth