Ein Innenminister, der die Verfassung ablehnt

Nach teilweise chaotischer Sitzung wählte die Volkskammer die vorgeschlagenen MinisterInnen / Abgeordnete verabschiedeten Erklärung zum Völkermord an den Juden, Polen Sinti und Roma und den Völkern der Sowjetunion / Bestandsgarantie der Oder-Neiße-Grenze bekräftigt  ■  Aus Ost-Berlin Walter Süß

Während vor dem Palast der Republik Tausende Bauern aus Angst um ihre materielle Existenz demonstrierten, wählte drinnen die Volkskammer die neue Regierung. Für Ministerpräsident Lothar de Maiziere war das Wahlergebnis eher enttäuschend: Obwohl die Koalition aus Allianz-Parteien (CDU, DSU und DA), liberalen Parteien (BFD, FDP und DFP) und SPD gemeinsam über 303, die Opposition dagegen nur über 97 Mandate verfügt, stimmten für ihn nur 265 Abgeordnete, dagegen aber 108. 9 Abgeordnete enthielten sich der Stimme. Die 19 Minister und 4 Ministerinnen erhielten - bei 109 Neinstimmen und 23 Enthaltungen - gar nur 247 Stimmen.

Vorausgegangen war dem eine chaotische Sitzung, in der die Abgeordneten vom Bündnis 90 zeitweilig unter Protest den Saal verließen. Es begann mit einem Streit um die Tagesordnung, der durch die ungeschickte Verhandlungsführung der neuen Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) noch angeheizt wurde. Vorgeführt wurde einer jener Konflikte, die bei dem Zuschauer vorm Fernsehschirm entweder das Gefühl hervorrufen, von engstirnigen Pedanten regiert zu werden oder einfach nicht durchzublicken. Tatsächlich handelte es sich - wie häufig in solchen Fällen - um einen eminent politischen Konflikt. Die Mehrheit meinte in allzu großem Vertrauen auf ihr numerisches Übergewicht die Geschäftsordnung nach ihrem Gutdünken hin- und herbiegen zu können, um einen verspätet eingereichten CDU-Antrag doch noch behandeln zu können. Dabei ging es um den Eid, den Ministerpräsident und MinisterInnen bei Amtsantritt schwören sollten.

Schwierige Eidesformel

Daß nicht jeder der Ministerkandidaten auf eine „sozialistische Verfassung“ zu schwören bereit sein würde, war den konservativen Parteitaktikern etwas zu spät eingefallen. Die Minderheit um das Bündnis 90 sah diese Schwierigkeit auch. Doch sie muß daran interessiert sein, daß die Regierung und die sie tragenden Parteien an Regeln gebunden sind: beispielsweise an die Geschäftsordnung und an die Verfassung, denn auch wenn sie schlecht ist, ist sie doch besser als gar keine. Der Innenminister ist bekanntlich der „Verfassungsminister“. In der Bundesrepublik gab es einmal einen, der erklärte, er könne „nicht immer mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen“. Über die Erklärung des künftigen DDR-Innenministers Peter Michael Diestel wäre auch er erstaunt gewesen. Diestel sagte in der Debatte: „Ich lehne inhaltlich die bestehende Verfassung ab.“

Schließlich mußte er doch nicht direkt auf sie schwören, denn man einigte sich auf die Eidesformel aus dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches: Ein Schwur auf „Recht und Gesetze der DDR“ - wobei freilich auch die Verfassung Gesetz ist. Eine weitere Auseinandersetzung war der Wahl des Kabinetts vorausgegangen. Die Opposition forderte, einzeln über die Minister abzustimmen. Die Koalition fürchtete, daß dabei einige Kandidaten durchfallen könnten, und warnte vor einem „Chaos“, denn in diesem Falle würden neue Koalitionsverhandlungen fällig. Und so stimmte schließlich auch die DSU-Fraktion, die noch eine Woche zuvor erklärt hatte, ihre Mitglieder würden sich „niemals mehr“ für En -bloc-Abstimmungen mißbrauchen lassen, diesem Verfahren zu. Ihre Kandidaten hätte es wohl auch am ehesten getroffen.

Schulderklärung abgegeben

Zu Beginn ihrer Sitzung - nachdem sie in die Tagesordnung eingetreten war - verabschiedete die Volkskammer fast einstimmig eine Erklärung. In dieser Erklärung wurde an den Völkermord an den Juden, an den Völkern der Sowjetunion, am polnischen Volk und am Volk der Sinti und Roma erinnert. Die Juden in aller Welt und das Volk in Israel wurden um Verzeihung gebeten. Den Völkern der Sowjetunion wurde mitgeteilt, daß die DDR sich um „eine konstruktive Politik für Frieden und internationale Zusammenarbeit“ bemüht. Der Einmarsch in der Tschechoslowakei, der die Demokratisierung Osteuropas um zwanzig Jahre verzögerte, wird in der Erklärung verurteilt. Und schließlich wird die „Unverletzbarkeit der Oder-Neiße-Grenze“ bekräftigt, die durch ein künftiges gesamtdeutsches Parlament vertraglich bestätigt werden soll (siehe Dokumentation auf dieser Seite).

Gegen diese „Erklärung“ gab es keine Gegenstimmen, wohl aber 21 Enthaltungen, vor allem aus den Reihen der DSU. Diese Abgeordneten sollen - so hört man - mit der endgültigen Anerkennung der polnischen Westgrenze nicht einverstanden sein. Die Volkskammer beschloß auf ihrer Sitzung weiterhin, einen zeitweiligen Prüfungsausschuß einzurichten, der eventuelle Verstrickungen von Abgeordneten und Ministern mit der „Stasi“ aufhellen soll. Abgeordneten, die sich in dieser Beziehung etwas vorzuwerfen haben, wird geraten, ihr Mandat niederzulegen. In der Debatte um diesen Punkt beschränkten sich fast alle Fraktionen auf mehr oder weniger ausführliche Zustimmung.

Der Abgeordnete Wolfgang Ullmann vom Bündnis 90 aber nutzte die Gelegenheit, die aktuelle Debatte in den Kontext der letzten Monate zu stellen. Er sprach über „die nationale Verantwortung der Opposition“ und über die Notwendigkeit einer neuen Verfassung, die „wir nicht von irgendwoher geschenkt bekommen“. Er schloß seine Rede mit den Worten: „Wir stehen hier, hergekommen aus der Opposition, gegen eine wirklichkeitsblinde Parteidiktatur. Wir rufen Sie, Sie alle als demokratische Opposition der Bürgerbewegungen dieses Landes auf zur Opposition gegen alles, was uns hindern will, uns selbst die Verfassung zu geben, in der die Sicherheit des Landes nicht durch Geheimorganisationen, sondern durch die Öffentlichkeit aller Gewalt und Gewaltausübung gewährleistet wird im Dienst der Freiheit, der Gleichheit und der Mitmenschlichkeit.“

Die nächste Sitzung der Volkskammer, auf der Lothar de Maiziere die Regierungserklärung vortragen wird, findet am kommenden Donnerstag statt. Unmittelbar im Anschluß daran sollen dann die Verhandlungen mit der Bundesregierung über einen Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion beginnen.