Was hat die Grammatik mit Marihuana zu tun?

■ Der Dichter Rolf Dieter Brinkmann wäre am 16. April fünfzig Jahre alt geworden Grund genug, an ihn zu erinnern

„Ja, ich bin auf der Straße aufgewachsen, abgehauen aus dem ewigen / Gerede über Rheumatismus, Überstunden, Schulgeld, Versetzungen, / und ob sie's noch schaffen, / zwischen den Zäunen, zwischen den aufgeteilten / Gärten, in Mietzimmern mit wurmstichigen Möbeln, / wo morgens auf dem Fußboden / die Holzwurmmehlhäufchen lagen,/ habe dreckige Hände und kein sauberes Hemd, /...

So fängt das Sonntagsgedicht an; abgedruckt in den Westwärts 1&2 Gedichten, die 1975 bei Rowohlt erschienen. Brinkmann starb kurz vor ihrer Auslieferung an den Buchhandel; er wurde in London überfahren. Fünfundreißigjährig.

Marcel Reich-Ranicki nahm den Umfall zum Anlaß, um noch einmal den von Brinkmann 1968 provozierten Eklat durchzuhecheln, der darin bestand, daß der Schriftsteller anläßlich einer Veranstaltung der Akademie der Künste in West-Berlin dem Kritiker Rudolf Hartung seinen Roman Keiner weiß mehr zeigte und dazu bemerkte: „Ich müßte ein Maschinengewehr haben und sie alle über den Haufen schießen.“

In einer Rezension vom 19. November 1968 erzeugt Rolf Michaelis das Bild zweier marodierender Autoren, Brinkmann und Bernhard, denen gegenüber moderate Kritiker auf Vernunft vergeblich bestehen: Der Kampf der Kunst gegen die Kultur soll weiter nichts sein als ungehörig, ein Sichgebärden.

Reich-Ranicki hielt diesen Vorfall für vorbereitet und für symptomatisch, für etwas, was auch auf andere deutsche Schriftsteller „der jüngeren Generation“ zutreffen sollte. Heute fragt man sich, welche Autoren er dabei im Sinne hatte.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Brinkmann-Rezeption, die in der Hauptsache auf die 1979 begonnenen Veröffentlichungen aus dem Nachlaß Bezug nimmt und deshalb die isolierte Position des Autors betont - von der Auskunft zu geben er seit 1970 nicht müde wurde -, fällt es schwer sich vorzustellen, daß Brinkmann vor kaum mehr als zwanzig Jahren in einem großen Zusammenhang gesehen werden konnte: Wortführer einer, vielleicht nur erfundenen, Gruppe von Autoren, die Literatur als Bestandteil subkultureller Gegenöffentlichkeit auffaßten.

„Ein einzelner Satz / oder gleich / mehrere. Hintereinander. / Ein ganzes Blumenbeet. / Und wieder Sätze. / Andere. Andere Blumen. / Ein für alle Mal. / Entgültig. / Blumen, die / Wurzeln treiben. / Was fraglich / ist, wofür.„

Mit Was fraglich ist wofür, seinem fünften Gedichtband (Kiepenheuer & Witsch, 1967) war Brinkmann bekannt geworden. Die Anregungen, die er aus dem amerikanischen Underground bezog, waren geeignet, ihn festzulegen auf die Rolle eines Pop- und Sexdichters. Oswald Kolle für Literaten betitelte Helmut Salzinger eine Rezension von Keiner weiß mehr, Brinkmanns einzigem Roman, 1968 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, von dem der Verlag behauptete, er formuliere „das Lebensgefühl einer neuen, noch nicht etablierten Generation“. Mit suggestiver Vehemenz zwingt er in das Erleben eines von Außenreizen überschwemmten Milieus hinein, in die „Faszination von Beat, Film und Mode“, und dem politischen Aufbruch mit seinen Bewegungsansprüchen wurde der Halbsatz konzidiert: “...in die Unsicherheit einer von einem illusionären Anspruch aufgestörten männlichen Sexualität“. So wollte man dieses Buch verkaufen, zu dessen Niederschrift Brinkmann vom Verlag angeregt worden war.

Die Rechnung ging auf: Ende Mai 68 stand Keiner weiß mehr auf der 'Spiegel'-Bestsellerliste. Wie auch der 'Spiegel‘ selbst bemerkte, der den Schriftsteller einen „untersetzten Gesinnungsunrasierten“ nannte und seinen Distanzierungsversuch von einem Klischee so unterlief: „Aber er wehrt sich auch gegen die Etikettierung als Pop- und Sex -Autor“, heißt der Satz, unter den der 'Spiegel‘ das folgende Zitat montiert hat: „Als ob ich einer wäre, der nur mit'm Pint schreibt.“

Brinkmann, der seit seinem Prosadebüt In der Grube in der von Dieter Wellershoff 1962 herausgegebenen Anthologie Ein Tag in der Stadt von der Kritik günstig beurteilt worden war und nach Martin Gregor-Dellin zeitweise als „Benjamin einer Gruppe, die 'Kölner Schule‘ genannt wird“, zu gelten hatte, war Ende 1968 nach Keiner weiß mehr, zwei Erzähl- und sieben Gedichtbänden (von denen der erste Ihr nennt es Sprache vom Autor wegen eines Druckfehlers einbehalten worden war), auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Er fiel auf mit einer Reihe spektakulärer Unmutsgebärden in der Öffentlichkeit und artikulierte seine unter anderem von Leslie Fiedler und Frank O'Hara beeinflußte Produktionsästhetik in der den Piloten (Gedichte, Kiepenheuer & Witsch 1968) vorangestellten „Notiz“: „Ich habe immer gern Gedichte geschrieben, wenn es auch lange gedauert hat, alle Vorurteile, was ein Gedicht darzustellen habe und wie es aussehen müsse, so ziemlich aus mir herauszuschreiben.“ Seine Kollegen, „die ausgebufften Kerle“, sitzen, „irgendwo unsichtbar und halten die kulturellen Wörter besetzt, anstatt herumzugehen und sich vieles einmal anzusehen, lebende Tote...“ - „Ich denke, daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten.“

Mittlerweile werden Vorbereitungen getroffen, um aus Brinkmann das bislang letzte deutsche Dichtergenie zu machen - ich glaube zu Recht -, aber daneben wird die Auffassung vertreten, seine immerhin in die Gegenwart reichende Bedeutung bestünde im wesentlichen in der Verbreitung 1969 neuer amerikanischer Literatur, im Acid, März-Verlag. Mitherausgeber dieser Anthologie war Ralf-Rainer Rygulla, der schon ein Jahr zuvor, bei Melzer, eine richtungweisende Lyriksammlung mit dem Titel Fuck You veröffentlicht hatte. In der „Nachbemerkung“ wird mitgeteilt, worauf es ihnen ankam: auf den voroffiziellen Bereich amerikanischer Literatur, die noch nicht durch Anpassung an den Markt korrumpiert ist, den Underground. Mit diesem Begriff und ihm verwandten Begriffen experimentierte man fortan in der Republik. Sie tauchten leitmotivisch auf, beispielsweise in einem Aufsatz von Holger Masata: Subkultur, Pop, Underground. Brinkmann, der nach Karl Heinz Bohrer „den ersten genuin entwickelten deutschen Pop-Roman geschrieben“ hatte, distanzierte sich schon bald darauf von den in Rom, Blicke (posthum, Rowohlt 1979) sogenannten USA-Dingern. Die genaue Übernahme der von ihm und Rygulla vorgegebenen Terminologie in der Rezeption weist darauf hin, wie wenig geläufig die im Acid vorgestellten Autoren und ihre Positionen dem deutschen Leser waren. Das hat sich geändert, die Wirkung dieser Amerikaner, Burroughs, Bukowski, Corso, Ferlinghetti, um nur einige zu nennen, und der von ihnen in den sechziger Jahren beeinflußten deutschen Autoren, zu denen neben Brinkmann auch Paulus Böhmer, Hadayatullah Hübsch, Jürgen Ploog, Jürgen Theobaldy zu zählen sind, ist kaum abzusehen. Nur ist die Sphäre ihrer Entfaltung vom offiziellen, von den Medien unter Beobachtung gestellten Publikationsgeschäft nach wie vor weitgehend abgekoppelt.

Jamel Tuschich