„Schuld der Mitte“

■ Der Intellektuellen Selbstbetrug wider besserer Ahnung

In der von der Obrigkeit mit Medienboykott belegten X. Kunstausstellung in Dresden (1982/83) hing das Bild H. H. Grimmlings, das den Besuchern Stirnrunzeln, Rätselraten und Beunruhigung bescherte. Ein Knäuel ins Leere stürzender roter oder bandagierter Gliedmaßen. Eine gleichermaßen aggressive und schwerblütige Komposition. Man kann nicht ungeschoren daran vorbei. Ständig verlangten die Besucher Erklärungen. Ihnen und mir selbst habe ich damals, was die Mitte und was ihre Schuld sei, so erklärt: Diese Masse von Mitläufern, weder links noch rechts, weder richtig dafür noch richtig dagegen, eben „Mitte“, ermöglicht dieses Regime und wird mit ihm in den Abgrund stürzen.

Obzwar Grimmling das Rot eindeutg negativ besetzte, dachte ich nicht gemeint zu sein angesichts des uferlosen, meinungslosen, lauen oder terroristischen Opportunismus, der in alle Sphären eindrang und gegen den unsereins „opponierte“. Und „Mitte“ war man keinesfalls, vor allem als mit Gorbatschow ein neues Bewußtsein von „links“ entstand und uns den ganzen Herrschaftsapparat als reaktionär erkennen ließ, der mit seinem Fußvolk in der Mitte und rechts herrschte.

Je mehr nun die Legende wucherte, die Intelligenz habe im Herbst '89 eine Revolution gemacht, und je lauter die Klagen klangen, „das Volk“ habe dieselbe am 18. 3. 1990 verraten, umso deutlicher wurde mir meine Zugehörigkeit zur schuldigen „Mitte“. Die intelligentsia hat's also schon lange gewußt, aber für sich behalten in Form von Kunstwerken, vor allem Stücken, Büchern, Gedichten und Bildern, die, ob gestattet oder auswärts, allemal über die Masse hinweggingen. Die Bevölkerungsmehrheit blieb unberaten, unversorgt mit den subversiven Wahrheiten und der Entpolitisierung, Verfälschung ihrer Interessen und Verdummung ausgeliefert zwei Generationen lang.

Ich rede nocht nicht einmal von der Schuld, einem erkanntermaßen kaputten System mit an sich edlen Werken der Kunst und Wissenschaft und mit der öffentlichen Vorführung an sich edler Haltungen nach außen schützende Reputation verliehen und ihm für den heimischen Gebrauch auch nur Schminke aufgetragen zu haben. Gerade den Wissenden waren seit langem nicht nur Perversion und Agonie der Macht, sondern auch die schauerlichen mentalen und moralischen Folgen der Entmündigung und Erniedrigung der Massen bekannt. Die Ausflüchte, die wir vorzubringen haben für das Versäumnis, Erkenntnisse, Katastrophenwarnungen und Wandlungsvorschläge nicht an die herangebracht zu haben, die, wie man ja nun wieder sah, Wandlungen dann erst wirklich einleiten - diese Ausflüchte sind noch weniger wert als alle Beteuerungen von 1945, man habe doch eh nichts machen können. Wo in den Parteiversammlungen seit zehn Jahren immer lauter und schärfer geschimpft wurde, entstand der Geist von Stammtischen, nicht der einer Revolution.

Es war doch schon lange klar und wurde so benannt, daß die große Bevölkerungsmehrheit naturnotwendig ganz andere Sorgen und Veränderungsbedürfnisse hat als die politische und kulturelle Intelligenz. Die „Schuld der Mitte“ besteht eben nicht schlechthin darin, gezaudert, manövriert, kaschiert und letztlich überwiegend gekniffen zu haben, sondern spezifisch in der Verkennung beziehungsweise typischen Unterschätzung elementarer Masseninteressen. Die Wahlresultate waren logisch, natürlich, historisch notwendig, nicht nur als direkte Folge einer allgewaltigen Diktatur der Dummheit und Unbildung, sondern auch als Ergebnis der Tatsache, daß die, die's „besser“ wußten und Stimme hatten, permanenten Stimmbruch litten.

Ich höre, auch dies sei nicht neu, sei da und dort schon ähnlich, wohl auch besser geschrieben worden. Nun denn, man muß es wohl noch ein paarmal mehr sagen. Wie man sich heutzutage mit publizistischem Geist und politischem Scharfsinn, mit Witz und Chutzpe auf die Kläglichkeiten der neuen „Macht“ stürzt und wie „ergötzlich“ die Rezensionen über die diesmal von einer anderen Hegemonialmacht dirigierten Blockflöten-Konzerte zu lesen sind, läßt obzwar diese Publizistik nötig ist, auch eine vielleicht gefährlich werdende Verdrängungssucht gerade in den Kreisen erkennen, die dem Volk kurzes Gedächtnis, vergessenes Mitläufertum und geschichtlichen Blackout bescheinigen.

Das Versagen der Intelligenz ist so unterschiedlich, wie diese selbst immer war. Es vereint Feiglinge und Helden, die Weggetauchten und die leidenschaftlich engagierten Geistesgrößen. Da gibt's noch viel zu lernen. Über die Leute und über sich selbst.

Hermann Raum