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Moskau dreht den Hahn ab

■ Kein Öl und Gas mehr für Litauen / Besonders Raffinerie von Mazeikiai betroffen / Prunskiene besucht Norwegen / Landsbergis: „Faktische Anerkennung“

Berlin (taz) - Die zunächst dementierte Einstellung der Öl und Gaslieferungen an Litauen ist am Mittwoch offenbar doch erfolgt. Der litauische Oberste Sowjet bestätigte, daß die Pipeline von der russischen Stadt Polozk nach Mazeikiai gegen 21.30 Uhr am Mittwoch auf Weisung Moskaus geschlossen wurde. Am Donnerstagmorgen verlautete weiter, auch das einzige AKW Litauens und eine Benzinpumpstation hätten den Betrieb eingestellt. Ferner werden die sowjetischen Erdgaslieferungen von 8,5 auf 3,5 Millionen Kubikmeter pro Tag gesenkt.

Litauen ist führender Lieferant von Ölindustrieausrüstungen, Bildröhren, integrierten Schaltungen und Zement für die Sowjetunion. Allein in der Raffinerie von Mazeikiai werden jährlich 15 Millionen Tonnen Erdöl verarbeitet. Also könnte Moskau, wenn es die Lieferungen ganz einstellt, pro Jahr 1,9980 Milliarden US -Dollar durch den Verkauf des bisher Litauen zugedachten Rohstoffs verdienen (ein Ölpreis von 18 Dollar / Barrel zugrundegelegt). Andererseits kann aber Moskau kaum daran interessiert sein, die petrolchemische Industrie in Litauen zum Erliegen zu bringen, handelt es sich doch bei der Raffinerie in Mazeikiai und beim ebenfalls betroffenen Chemiekombinats Kedainiai um unionseigene Betriebe, die hauptsächlich zugunsten der UdSSR produzieren. In derartigen Allunionsbetrieben arbeiten üblicherweise auch viele Russen, so daß ein erzwungener Arbeitsausfall zu Interessenkonflikten unter der Belegschaft führen könnte.

Es liegt daher nahe, daß auch andere Gründe eine Rolle spielen. Ein Konfliktpunkt ergibt sich aus den bevorstehenden Eigentumsveränderungen in der Sowjetwirtschaft. Sollten die genannten Betriebe teilprivatisiert werden, muß geklärt werden, ob der Erlös der Union oder auch der litauischen SSR zugute kommen soll. Der Moskauer Vizepremier Abalkin hat öfter deutlich gemacht, daß Moskau auf keinen Fall den Einzelrepubliken die Verfügung über das dringend benötigte Kapital überlassen will.

Unterdessen hält sich die litauische Ministerpräsidentin Prunskiene in Oslo auf, um die Möglichkeit norwegischer Ölimporte zu sondieren. Präsident Landsbergis erklärte in Vilnius, der Lieferstopp bedeute eine faktische Anerkennung der litauischen Unabhängigkeit.

Das litauische Parlament hatte am Mittwochabend sein Antwortschreiben an Gorbatschow verabschiedet. Wie ein Sprecher des litauischen Parlaments mitteilte, werde Litauen bis zum 1. Mai dieses Jahres auf die Annahme weiterer politischer Gesetze verzichten. An die UdSSR wurde appelliert, Konsultationen mit einer bevollmächtigten litauischen Delegation aufzunehmen.

D.J./R.K.

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