Notizen vom Nachbarn

■ „Jens und seine Eltern“ von Hans-Dieter Grabe, Sonntag, 22.15 Uhr, ZDF

Ein schwangerer Bauch. Die Hände der Mutter halten den gewölbten Leib sanft umschlossen - die gespannte Haut signalisiert: Die Entbindung steht unmittelbar bevor. Diese ersten Bilder von Jens und seine Eltern zittern ein wenig, und zu den Rändern hin werden sie dunkler. Sie stammen aus der Super-8-Kamera des zukünftigen Vaters und wurden gedreht fürs Familienalbum. Jetzt sind sie für ein Millionenpublikum im Fernsehen zu sehen, und der Vater kommentiert seinen eigenen kleinen Film aus dem Off. „Da war Mutter noch stolz.“ Verbitterung und auch Resignation liegt in den Worten des Mannes. Neun Jahre sind seit Entstehung der Aufnahmen vergangen, neun Jahre ist auch das Alter seines Sohnes Jens. Jens, seit seiner Geburt schwerstbehindert, ist ein Pflegefall bis an sein Lebensende. Aufgrund von Komplikationen während der Entbindung litt das Kind unter Sauerstoffmangel. Hinzu kam eine Gehirnblutung, als es mit einer Saugglocke geholt werden mußte.

Vom Behindertenalltag des Neunjährigen erzählt der Film eher beiläufig. Die Menschen, die Grabe beim Umgang mit Jens beobachtet hat, wirken behutsam und umsichtig. Das gilt für den Zivildienstleistenden Karsten ebenso wie für die Krankengymnastin, die versucht durch Körpertraining die spastischen Verkrampfungen im Körper des Jungen wenigstens kurzzeitig zu lockern.

Der Film hat seine intensivsten Momente, wenn die Eltern im Gespräch mit dem Regisseur von sich erzählen. „Da haben wir also wirklich mal gedacht, wir wollen ihn am liebsten umbringen, weil er uns überhaupt keinen Raum mehr läßt für unser eigenes Leben“, erklärt der Vater, und als Grabe zwischenfragt: „Sie haben auch über ihre Gedanken miteinander gesprochen?“, berichtet die Frau: „Ich bin mir sehr sicher inzwischen, daß das Aussprechen dieser Gedanken ja letztlich verhindert hat, daß Jens Opfer unserer Hilflosigkeit und Gewalttätigkeit geworden ist.“

Grabes Interviewtechnik fordert nichts. Sie räumt lediglich Steine, die den Redefluß behindern könnten, aus dem Weg.

Der zweiten Hälfte des Films zuliebe ein Sprung: 1985 realisierte Grabe Hiroshima, Nagasaki - Atombombenopfer sagen aus. Mit unglaublichen Bildern werden hier die Schwierigkeiten geschildert, mit denen die Atombombenopfer in der japanischen Gesellschaft zu kämpfen haben. Ein Mann mit völlig vernarbtem Körper redet davon, wie er seine Verletzungen verheimlicht hat, um eine Frau zu finden. Erst in der Hochzeitsnacht wird die Angetraute der Wunden gewahr, die ihren Mann entstellen - sie verläßt den Raum, doch kurze Zeit später kehrt sie zurück. Noch heute sind die beiden verheiratet, und während der Mann von dieser Zeit spricht, legt ihm die Frau liebevoll die Hände auf den deformierten Leib.

Grabe konfrontiert den Zuschauer auch in Jens und seine Eltern mit der Qual und dem Schmerz seiner Gegenüber, aber auch hier glückt es, dank der Kameraarbeit Horst Bendels, den Film nicht in völligem Pessimismus versinken zu lassen, sondern kleine Momente der Zuversicht im Leben des Paares einzufangen. Auch wenn die Eltern beklagen, ihnen sei durch die Geburt des Kindes „alles zerstört worden“, so legen die Bilder gleichwohl die immense Zuneigung frei, mit der die Eltern ihrem Kind begegnen.

Hans Dieter Grabe, der auf Seminaren und Symposien immer wieder betont, seine Filme seien nicht für die große Leinwand, sondern für die kleine Mattscheibe gemacht, verdeutlicht auch mit Jens und seine Eltern, was Fernsehen in seinen besten Momenten sein kann: Notizen vom Nachbarn, zustande gekommen durch genaues Hinsehen und Hinhören und eine hohe Form von Integrität, die bei Grabe bereits zum Stilmittel geworden ist. Das all dies Lichtjahre entfernt ist vom modernen Hauruck-Journalismus der 1'30 -Generation versteht sich von selbst.

Friedrich Frey